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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
wird schwer sein für die Wissenschaft der Politik eine bessere
Anknüpfung, eine würdigere Begründung zu finden.

Eine solche Bedeutung für Sittlichkeit, Wissenschaft und
öffentliches Leben hat die Freundschaft in späteren Zeiten nicht
wieder gehabt. Das Verhältniß der geistigen Güter zu ein¬
ander mußte ein wesentlich anderes werden, seitdem die Ehe,
die Familie, die religiöse und staatliche Gemeinschaft sich in
neuer Weise gestaltet haben. Die Kräfte, welche die Freund¬
schaft nährten, sind in andere Formen des sittlichen Lebens
übergegangen. Ja an sich ist die Freundschaft der Hellenen
etwas so Beschaffenes, daß für sie in unserer Sitte gar kein
Platz zu sein scheint. Denn zu der antiken Freundschaft gehört
als nothwendiger Gegensatz die Feindschaft. Wer keinen Feind
hat, sagten die Alten, der hat auch keinen Freund, und hielten
den erst für einen rechten Mann, welcher seinem Freunde Freund
und seinem Feinde Feind zu sein, der Gutes wie Böses zurück¬
zugeben wisse. Wie verträgt sich das mit der allgemeinen
Menschenliebe, welche die Seele christlicher Ethik ist?

Dann ist auch die Stellung der einzelnen Tugenden eine
ganz andere geworden. Sie stehen nicht mehr so gesondert,
so selbständig, in so plastischen Umrissen vor unserm Bewußt¬
sein; sie verschwimmen in einander und werden mit Forde¬
rungen verbunden, welche außerhalb des eigentlichen Gebiets
der Sittenlehre liegen. Während die Religion im Alterthume
die Ethik freiließ, ist die neuere Ethik von der Glaubenslehre
abhängig, und so werden auch die einzelnen Tugenden in
ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt. Endlich noch ein großer
Unterschied. Den Alten war die Ausbildung der irdischen
Verhältnisse Alles. Sie ahnten ein Jenseits, sie glaubten an
eine Vergeltung, aber sie lebten für das Diesseits und wendeten
ihre volle Energie der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu.
Daher hatten die geselligen Tugenden eine ganz andere Be¬
deutung, Politik und Ethik eine ganz andere Verbindung.
Im Christenthume lag von Anfang an eine transscendentale
Richtung. Der Mensch ist ein Pilger, der sich nicht zu tief
einlassen darf mit einer Welt, die ihm fremd ist und sein soll;

Die Freundſchaft im Alterthume.
wird ſchwer ſein für die Wiſſenſchaft der Politik eine beſſere
Anknüpfung, eine würdigere Begründung zu finden.

Eine ſolche Bedeutung für Sittlichkeit, Wiſſenſchaft und
öffentliches Leben hat die Freundſchaft in ſpäteren Zeiten nicht
wieder gehabt. Das Verhältniß der geiſtigen Güter zu ein¬
ander mußte ein weſentlich anderes werden, ſeitdem die Ehe,
die Familie, die religiöſe und ſtaatliche Gemeinſchaft ſich in
neuer Weiſe geſtaltet haben. Die Kräfte, welche die Freund¬
ſchaft nährten, ſind in andere Formen des ſittlichen Lebens
übergegangen. Ja an ſich iſt die Freundſchaft der Hellenen
etwas ſo Beſchaffenes, daß für ſie in unſerer Sitte gar kein
Platz zu ſein ſcheint. Denn zu der antiken Freundſchaft gehört
als nothwendiger Gegenſatz die Feindſchaft. Wer keinen Feind
hat, ſagten die Alten, der hat auch keinen Freund, und hielten
den erſt für einen rechten Mann, welcher ſeinem Freunde Freund
und ſeinem Feinde Feind zu ſein, der Gutes wie Böſes zurück¬
zugeben wiſſe. Wie verträgt ſich das mit der allgemeinen
Menſchenliebe, welche die Seele chriſtlicher Ethik iſt?

Dann iſt auch die Stellung der einzelnen Tugenden eine
ganz andere geworden. Sie ſtehen nicht mehr ſo geſondert,
ſo ſelbſtändig, in ſo plaſtiſchen Umriſſen vor unſerm Bewußt¬
ſein; ſie verſchwimmen in einander und werden mit Forde¬
rungen verbunden, welche außerhalb des eigentlichen Gebiets
der Sittenlehre liegen. Während die Religion im Alterthume
die Ethik freiließ, iſt die neuere Ethik von der Glaubenslehre
abhängig, und ſo werden auch die einzelnen Tugenden in
ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt. Endlich noch ein großer
Unterſchied. Den Alten war die Ausbildung der irdiſchen
Verhältniſſe Alles. Sie ahnten ein Jenſeits, ſie glaubten an
eine Vergeltung, aber ſie lebten für das Dieſſeits und wendeten
ihre volle Energie der Geſtaltung des öffentlichen Lebens zu.
Daher hatten die geſelligen Tugenden eine ganz andere Be¬
deutung, Politik und Ethik eine ganz andere Verbindung.
Im Chriſtenthume lag von Anfang an eine transſcendentale
Richtung. Der Menſch iſt ein Pilger, der ſich nicht zu tief
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[198/0214] Die Freundſchaft im Alterthume. wird ſchwer ſein für die Wiſſenſchaft der Politik eine beſſere Anknüpfung, eine würdigere Begründung zu finden. Eine ſolche Bedeutung für Sittlichkeit, Wiſſenſchaft und öffentliches Leben hat die Freundſchaft in ſpäteren Zeiten nicht wieder gehabt. Das Verhältniß der geiſtigen Güter zu ein¬ ander mußte ein weſentlich anderes werden, ſeitdem die Ehe, die Familie, die religiöſe und ſtaatliche Gemeinſchaft ſich in neuer Weiſe geſtaltet haben. Die Kräfte, welche die Freund¬ ſchaft nährten, ſind in andere Formen des ſittlichen Lebens übergegangen. Ja an ſich iſt die Freundſchaft der Hellenen etwas ſo Beſchaffenes, daß für ſie in unſerer Sitte gar kein Platz zu ſein ſcheint. Denn zu der antiken Freundſchaft gehört als nothwendiger Gegenſatz die Feindſchaft. Wer keinen Feind hat, ſagten die Alten, der hat auch keinen Freund, und hielten den erſt für einen rechten Mann, welcher ſeinem Freunde Freund und ſeinem Feinde Feind zu ſein, der Gutes wie Böſes zurück¬ zugeben wiſſe. Wie verträgt ſich das mit der allgemeinen Menſchenliebe, welche die Seele chriſtlicher Ethik iſt? Dann iſt auch die Stellung der einzelnen Tugenden eine ganz andere geworden. Sie ſtehen nicht mehr ſo geſondert, ſo ſelbſtändig, in ſo plaſtiſchen Umriſſen vor unſerm Bewußt¬ ſein; ſie verſchwimmen in einander und werden mit Forde¬ rungen verbunden, welche außerhalb des eigentlichen Gebiets der Sittenlehre liegen. Während die Religion im Alterthume die Ethik freiließ, iſt die neuere Ethik von der Glaubenslehre abhängig, und ſo werden auch die einzelnen Tugenden in ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt. Endlich noch ein großer Unterſchied. Den Alten war die Ausbildung der irdiſchen Verhältniſſe Alles. Sie ahnten ein Jenſeits, ſie glaubten an eine Vergeltung, aber ſie lebten für das Dieſſeits und wendeten ihre volle Energie der Geſtaltung des öffentlichen Lebens zu. Daher hatten die geſelligen Tugenden eine ganz andere Be¬ deutung, Politik und Ethik eine ganz andere Verbindung. Im Chriſtenthume lag von Anfang an eine transſcendentale Richtung. Der Menſch iſt ein Pilger, der ſich nicht zu tief einlaſſen darf mit einer Welt, die ihm fremd iſt und ſein ſoll;

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/214>, abgerufen am 23.11.2024.