Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Gastfreundschaft. welche unter günstigen Verhältnissen bei allen Völkern zurEntfaltung gekommen sind, die Erbgüter oder Erbtugenden des Menschengeschlechts, und wenn ich mich umschaue auf diesem Gebiete, so finde ich keinen Gegenstand, dessen Be¬ trachtung uns die Macht des sittlichen Lebens in gleicher Klarheit vor Augen stellte, der zugleich mit dem Berufe einer deutschen Universität wie mit der Geschichte unseres Staats enger zusammenhinge, also auch der festlichen Veranlassung, welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend der Gastfreundschaft. Man rechnet sie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und Von diesem allgemeinen Unterschiede abgesehen zeigt sich So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren Die Gaſtfreundſchaft. welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zurEntfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬ trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung, welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend der Gaſtfreundſchaft. Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0220" n="204"/><fw place="top" type="header">Die Gaſtfreundſchaft.<lb/></fw> welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zur<lb/> Entfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden<lb/> des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf<lb/> dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬<lb/> trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher<lb/> Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer<lb/> deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats<lb/> enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung,<lb/> welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend<lb/> der Gaſtfreundſchaft.</p><lb/> <p>Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und<lb/> Ländern mehr angehören, als den unſrigen, aber das hat<lb/> doch, ſo Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns<lb/> die Tugenden überhaupt nicht als beſondere Kräfte oder Lei¬<lb/> ſtungen angeſehen und geehrt werden, ſondern mehr als Früchte<lb/> eines Baums, einer gemeinſamen Wurzel des göttlichen Lebens<lb/> im Menſchen, entwachſen. Wenn alſo auch <hi rendition="#g">uns</hi> ein »herberget<lb/> gerne« zugerufen wird, ſo iſt das doch weniger eine einzelne<lb/> Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerkſam<lb/> macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die<lb/> Wurzel nicht geſund ſein könne. Dieſe Geſammtanſchauung<lb/> einer ethiſchen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar ſein;<lb/> bei ihnen ſind die verſchiedenen Tugenden freie Geſtalten, jede<lb/> für ſich in feſten Umriſſen ausgeprägt.</p><lb/> <p>Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich<lb/> nun gerade in Betreff der Gaſtfreundſchaft eine merkwürdige<lb/> Uebereinſtimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher<lb/> gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬<lb/> ham und Lot einkehrt, ſo ziehen auch die Götter der Hellenen<lb/> als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an<lb/> die Thüren der Menſchenkinder; wo ſie aber Aufnahme fin¬<lb/> den und dienſtfertige Aufmerkſamkeit, laſſen ſie reichen Haus¬<lb/> ſegen zurück.</p><lb/> <p>So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren<lb/> Hütte ſie vor den hereinbrechenden Fluthen ſchützen, wie die<lb/> Zwerge des Grindelwalds die Häuſer ihrer Gaſtfreunde; ſo<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [204/0220]
Die Gaſtfreundſchaft.
welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zur
Entfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden
des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf
dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬
trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher
Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer
deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats
enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung,
welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend
der Gaſtfreundſchaft.
Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und
Ländern mehr angehören, als den unſrigen, aber das hat
doch, ſo Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns
die Tugenden überhaupt nicht als beſondere Kräfte oder Lei¬
ſtungen angeſehen und geehrt werden, ſondern mehr als Früchte
eines Baums, einer gemeinſamen Wurzel des göttlichen Lebens
im Menſchen, entwachſen. Wenn alſo auch uns ein »herberget
gerne« zugerufen wird, ſo iſt das doch weniger eine einzelne
Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerkſam
macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die
Wurzel nicht geſund ſein könne. Dieſe Geſammtanſchauung
einer ethiſchen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar ſein;
bei ihnen ſind die verſchiedenen Tugenden freie Geſtalten, jede
für ſich in feſten Umriſſen ausgeprägt.
Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich
nun gerade in Betreff der Gaſtfreundſchaft eine merkwürdige
Uebereinſtimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher
gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬
ham und Lot einkehrt, ſo ziehen auch die Götter der Hellenen
als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an
die Thüren der Menſchenkinder; wo ſie aber Aufnahme fin¬
den und dienſtfertige Aufmerkſamkeit, laſſen ſie reichen Haus¬
ſegen zurück.
So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren
Hütte ſie vor den hereinbrechenden Fluthen ſchützen, wie die
Zwerge des Grindelwalds die Häuſer ihrer Gaſtfreunde; ſo
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