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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
dungen der beiden Seestädte waren in die trauliche Form des
gegenseitigen Gemeindegastrechts eingekleidet. Trotz aller Eifer¬
sucht zwischen Athen und Theben wurde der thebanische Dichter
doch von den Athenern zum Gastfreunde gemacht; man zeigte,
daß man die Männer zu erkennen wisse, welche der Nation
angehörten. Delphi nahm einen besonderen Antheil an der
Pflege des Gastrechts und benutzte es, um fremde Fürsten und
Völker mit den Hellenen in Verbindung zu bringen oder ein¬
zelne Hellenen durch das Gastrecht an dem gemeinsamen Herde
von Hellas auszuzeichnen.

Es war die Gastfreundschaft also nicht nur ein Schmuck
des einzelnen Hauses und ein Segen desselben, sondern auch
eine bürgerliche Tugend, ein Grundsatz des öffentlichen Lebens,
ein charakteristisches Kennzeichen der verschiedenen Staaten, je
nachdem sie gastlich oder ungastlich sind.

Ungastlich sind alle Staaten, ehe sie in größeren Verkehr
eintreten, wie das abgelegene Phäakeneiland, wo Odysseus
gerathen wird, still und ohne Umschauen vor sich hinzugehen,
weil er sonst als Fremdling kränkenden Worten ausgesetzt sein
würde. Eines Abschlusses gegen außen bedürfen die Staaten,
um sich in ihrer Individualität auszugestalten und ihr volles
Dasein zu gewinnen; es ist die Selbstsucht eines noch unreifen
und in sich unsicheren Lebens, dieselbe, welche wir bei allen
Kindern wahrnehmen. So finden wir namentlich die Ge¬
meinden des Alterthums in schroffer Isolirung, eine neben
der anderen, eine jede eifersüchtig ihre Gränzen hütend und
einer geschlossenen Aktiengesellschaft gleich alle Vortheile der
Gemeinschaft ihrem engen Kreise vorbehaltend. Der nächste
Nachbar ist ein Ausländer und hat kein Eherecht, kein Besitz¬
recht, keinen Anspruch auf Schutz.

Diese Absperrung darf aber nicht zu lange dauern, sonst
tritt eine Erstarrung oder Verknöcherung ein, und der Lebens¬
proceß wird zu einem todten Mechanismus, wie es in Sparta
der Fall war, wo man ein überkünstliches Staatsgebäude
durch angstvolle Isolirung erhalten wollte. Wird die Ab¬
sperrung zu spät aufgehoben, so bleibt eine gewisse Rohheit

Die Gaſtfreundſchaft.
dungen der beiden Seeſtädte waren in die trauliche Form des
gegenſeitigen Gemeindegaſtrechts eingekleidet. Trotz aller Eifer¬
ſucht zwiſchen Athen und Theben wurde der thebaniſche Dichter
doch von den Athenern zum Gaſtfreunde gemacht; man zeigte,
daß man die Männer zu erkennen wiſſe, welche der Nation
angehörten. Delphi nahm einen beſonderen Antheil an der
Pflege des Gaſtrechts und benutzte es, um fremde Fürſten und
Völker mit den Hellenen in Verbindung zu bringen oder ein¬
zelne Hellenen durch das Gaſtrecht an dem gemeinſamen Herde
von Hellas auszuzeichnen.

Es war die Gaſtfreundſchaft alſo nicht nur ein Schmuck
des einzelnen Hauſes und ein Segen deſſelben, ſondern auch
eine bürgerliche Tugend, ein Grundſatz des öffentlichen Lebens,
ein charakteriſtiſches Kennzeichen der verſchiedenen Staaten, je
nachdem ſie gaſtlich oder ungaſtlich ſind.

Ungaſtlich ſind alle Staaten, ehe ſie in größeren Verkehr
eintreten, wie das abgelegene Phäakeneiland, wo Odyſſeus
gerathen wird, ſtill und ohne Umſchauen vor ſich hinzugehen,
weil er ſonst als Fremdling kränkenden Worten ausgeſetzt ſein
würde. Eines Abſchluſſes gegen außen bedürfen die Staaten,
um ſich in ihrer Individualität auszugeſtalten und ihr volles
Daſein zu gewinnen; es iſt die Selbſtſucht eines noch unreifen
und in ſich unſicheren Lebens, dieſelbe, welche wir bei allen
Kindern wahrnehmen. So finden wir namentlich die Ge¬
meinden des Alterthums in ſchroffer Iſolirung, eine neben
der anderen, eine jede eiferſüchtig ihre Gränzen hütend und
einer geſchloſſenen Aktiengeſellſchaft gleich alle Vortheile der
Gemeinſchaft ihrem engen Kreiſe vorbehaltend. Der nächſte
Nachbar iſt ein Ausländer und hat kein Eherecht, kein Beſitz¬
recht, keinen Anſpruch auf Schutz.

Dieſe Abſperrung darf aber nicht zu lange dauern, ſonſt
tritt eine Erſtarrung oder Verknöcherung ein, und der Lebens¬
proceß wird zu einem todten Mechanismus, wie es in Sparta
der Fall war, wo man ein überkünſtliches Staatsgebäude
durch angſtvolle Iſolirung erhalten wollte. Wird die Ab¬
ſperrung zu ſpät aufgehoben, ſo bleibt eine gewiſſe Rohheit

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[207/0223] Die Gaſtfreundſchaft. dungen der beiden Seeſtädte waren in die trauliche Form des gegenſeitigen Gemeindegaſtrechts eingekleidet. Trotz aller Eifer¬ ſucht zwiſchen Athen und Theben wurde der thebaniſche Dichter doch von den Athenern zum Gaſtfreunde gemacht; man zeigte, daß man die Männer zu erkennen wiſſe, welche der Nation angehörten. Delphi nahm einen beſonderen Antheil an der Pflege des Gaſtrechts und benutzte es, um fremde Fürſten und Völker mit den Hellenen in Verbindung zu bringen oder ein¬ zelne Hellenen durch das Gaſtrecht an dem gemeinſamen Herde von Hellas auszuzeichnen. Es war die Gaſtfreundſchaft alſo nicht nur ein Schmuck des einzelnen Hauſes und ein Segen deſſelben, ſondern auch eine bürgerliche Tugend, ein Grundſatz des öffentlichen Lebens, ein charakteriſtiſches Kennzeichen der verſchiedenen Staaten, je nachdem ſie gaſtlich oder ungaſtlich ſind. Ungaſtlich ſind alle Staaten, ehe ſie in größeren Verkehr eintreten, wie das abgelegene Phäakeneiland, wo Odyſſeus gerathen wird, ſtill und ohne Umſchauen vor ſich hinzugehen, weil er ſonst als Fremdling kränkenden Worten ausgeſetzt ſein würde. Eines Abſchluſſes gegen außen bedürfen die Staaten, um ſich in ihrer Individualität auszugeſtalten und ihr volles Daſein zu gewinnen; es iſt die Selbſtſucht eines noch unreifen und in ſich unſicheren Lebens, dieſelbe, welche wir bei allen Kindern wahrnehmen. So finden wir namentlich die Ge¬ meinden des Alterthums in ſchroffer Iſolirung, eine neben der anderen, eine jede eiferſüchtig ihre Gränzen hütend und einer geſchloſſenen Aktiengeſellſchaft gleich alle Vortheile der Gemeinſchaft ihrem engen Kreiſe vorbehaltend. Der nächſte Nachbar iſt ein Ausländer und hat kein Eherecht, kein Beſitz¬ recht, keinen Anſpruch auf Schutz. Dieſe Abſperrung darf aber nicht zu lange dauern, ſonſt tritt eine Erſtarrung oder Verknöcherung ein, und der Lebens¬ proceß wird zu einem todten Mechanismus, wie es in Sparta der Fall war, wo man ein überkünſtliches Staatsgebäude durch angſtvolle Iſolirung erhalten wollte. Wird die Ab¬ ſperrung zu ſpät aufgehoben, ſo bleibt eine gewiſſe Rohheit

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/223>, abgerufen am 23.11.2024.