Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.

Diese Betrachtung erlaubt uns nicht, ausschließlich bei
den Griechen stehen zu bleiben; sie gehören einem weiteren
Völkerkreise an, von welchem wir sie nicht ablösen können,
wenn wir ihr religiöses Leben in das Auge fassen. Denn wie
der einzelne Mensch sich unter günstigen Verhältnissen in zwie¬
facher Weise entwickelt, indem er einmal eine Fülle neuer An¬
schauungen, Begriffe und Erfahrungen selbständig erwirbt,
andererseits aber auch gewisse Vorstellungen und Ueberzeu¬
gungen, welche schon bei beginnendem Selbstbewußtsein in
ihm waren, allmählich entwickelt, abklärt und durch Zweifel
und Anfechtungen hindurch immer fester sich aneignet: so fin¬
den wir auch bei den Völkern eine gleiche Entwickelung, und
so wenig wir die des einzelnen Menschen begreifen können,
wenn wir nicht die geistige Atmosphäre kennen, in welcher er
geboren und aufgewachsen ist, die Ueberlieferung seiner Hei¬
math, seines Standes und seines Vaterhauses, so wenig können
wir das geistige Leben eines Volks vollständig begreifen, wenn
wir nicht die Vorstellungen kennen, welche es als ein gemein¬
sames Besitzthum mit anderen Völkern getheilt hat, die später¬
hin ihre eigenen Wege gegangen sind. Deshalb ist es ja für
die Geschichte des menschlichen Geistes von so unschätzbarer
Wichtigkeit, daß der gemeinsame, geistige Besitz jenes Zweigs
der Menschheit, welchem die Inder, die Griechen und die
Deutschen angehören, von Jahr zu Jahr immer klarer her¬
vortritt und, Dank sei es den unermüdlichen Erforschern morgen¬
ländischer Weisheit! immer leichter auch von denen benutzt
werden kann, welche nicht unmittelbar aus den Quellen zu
schöpfen vermögen.

Die Inder sind das älteste der Brudervölker. Sie haben,
wie wir sagen dürfen, das gemeinsame Vaterhaus am spätesten
verlassen und die Tradition desselben am treuesten bewahrt.
Darauf beruht die über indische Alterthumskunde weit hinaus¬
gehende Bedeutung ihrer Religionsschriften; darum haben auch
für alle verwandten Stämme die Veden einen urkundlichen
Werth; denn sie enthalten eine in sich zusammenhängende Fülle
religiöser Vorstellungen, welche die Inder unzweifelhaft nicht

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.

Dieſe Betrachtung erlaubt uns nicht, ausſchließlich bei
den Griechen ſtehen zu bleiben; ſie gehören einem weiteren
Völkerkreiſe an, von welchem wir ſie nicht ablöſen können,
wenn wir ihr religiöſes Leben in das Auge faſſen. Denn wie
der einzelne Menſch ſich unter günſtigen Verhältniſſen in zwie¬
facher Weiſe entwickelt, indem er einmal eine Fülle neuer An¬
ſchauungen, Begriffe und Erfahrungen ſelbſtändig erwirbt,
andererſeits aber auch gewiſſe Vorſtellungen und Ueberzeu¬
gungen, welche ſchon bei beginnendem Selbſtbewußtſein in
ihm waren, allmählich entwickelt, abklärt und durch Zweifel
und Anfechtungen hindurch immer feſter ſich aneignet: ſo fin¬
den wir auch bei den Völkern eine gleiche Entwickelung, und
ſo wenig wir die des einzelnen Menſchen begreifen können,
wenn wir nicht die geiſtige Atmoſphäre kennen, in welcher er
geboren und aufgewachſen iſt, die Ueberlieferung ſeiner Hei¬
math, ſeines Standes und ſeines Vaterhauſes, ſo wenig können
wir das geiſtige Leben eines Volks vollſtändig begreifen, wenn
wir nicht die Vorſtellungen kennen, welche es als ein gemein¬
ſames Beſitzthum mit anderen Völkern getheilt hat, die ſpäter¬
hin ihre eigenen Wege gegangen ſind. Deshalb iſt es ja für
die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes von ſo unſchätzbarer
Wichtigkeit, daß der gemeinſame, geiſtige Beſitz jenes Zweigs
der Menſchheit, welchem die Inder, die Griechen und die
Deutſchen angehören, von Jahr zu Jahr immer klarer her¬
vortritt und, Dank ſei es den unermüdlichen Erforſchern morgen¬
ländiſcher Weisheit! immer leichter auch von denen benutzt
werden kann, welche nicht unmittelbar aus den Quellen zu
ſchöpfen vermögen.

Die Inder ſind das älteſte der Brudervölker. Sie haben,
wie wir ſagen dürfen, das gemeinſame Vaterhaus am ſpäteſten
verlaſſen und die Tradition deſſelben am treueſten bewahrt.
Darauf beruht die über indiſche Alterthumskunde weit hinaus¬
gehende Bedeutung ihrer Religionsſchriften; darum haben auch
für alle verwandten Stämme die Veden einen urkundlichen
Werth; denn ſie enthalten eine in ſich zuſammenhängende Fülle
religiöſer Vorſtellungen, welche die Inder unzweifelhaft nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0236" n="220"/>
        <fw place="top" type="header">Die Idee der Un&#x017F;terblichkeit bei den Alten.<lb/></fw>
        <p>Die&#x017F;e Betrachtung erlaubt uns nicht, aus&#x017F;chließlich bei<lb/>
den Griechen &#x017F;tehen zu bleiben; &#x017F;ie gehören einem weiteren<lb/>
Völkerkrei&#x017F;e an, von welchem wir &#x017F;ie nicht ablö&#x017F;en können,<lb/>
wenn wir ihr religiö&#x017F;es Leben in das Auge fa&#x017F;&#x017F;en. Denn wie<lb/>
der einzelne Men&#x017F;ch &#x017F;ich unter gün&#x017F;tigen Verhältni&#x017F;&#x017F;en in zwie¬<lb/>
facher Wei&#x017F;e entwickelt, indem er einmal eine Fülle neuer An¬<lb/>
&#x017F;chauungen, Begriffe und Erfahrungen &#x017F;elb&#x017F;tändig erwirbt,<lb/>
anderer&#x017F;eits aber auch gewi&#x017F;&#x017F;e Vor&#x017F;tellungen und Ueberzeu¬<lb/>
gungen, welche &#x017F;chon bei beginnendem Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein in<lb/>
ihm waren, allmählich entwickelt, abklärt und durch Zweifel<lb/>
und Anfechtungen hindurch immer fe&#x017F;ter &#x017F;ich aneignet: &#x017F;o fin¬<lb/>
den wir auch bei den Völkern eine gleiche Entwickelung, und<lb/>
&#x017F;o wenig wir die des einzelnen Men&#x017F;chen begreifen können,<lb/>
wenn wir nicht die gei&#x017F;tige Atmo&#x017F;phäre kennen, in welcher er<lb/>
geboren und aufgewach&#x017F;en i&#x017F;t, die Ueberlieferung &#x017F;einer Hei¬<lb/>
math, &#x017F;eines Standes und &#x017F;eines Vaterhau&#x017F;es, &#x017F;o wenig können<lb/>
wir das gei&#x017F;tige Leben eines Volks voll&#x017F;tändig begreifen, wenn<lb/>
wir nicht die Vor&#x017F;tellungen kennen, welche es als ein gemein¬<lb/>
&#x017F;ames Be&#x017F;itzthum mit anderen Völkern getheilt hat, die &#x017F;päter¬<lb/>
hin ihre eigenen Wege gegangen &#x017F;ind. Deshalb i&#x017F;t es ja für<lb/>
die Ge&#x017F;chichte des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes von &#x017F;o un&#x017F;chätzbarer<lb/>
Wichtigkeit, daß der gemein&#x017F;ame, gei&#x017F;tige Be&#x017F;itz jenes Zweigs<lb/>
der Men&#x017F;chheit, welchem die Inder, die Griechen und die<lb/>
Deut&#x017F;chen angehören, von Jahr zu Jahr immer klarer her¬<lb/>
vortritt und, Dank &#x017F;ei es den unermüdlichen Erfor&#x017F;chern morgen¬<lb/>
ländi&#x017F;cher Weisheit! immer leichter auch von denen benutzt<lb/>
werden kann, welche nicht unmittelbar aus den Quellen zu<lb/>
&#x017F;chöpfen vermögen.</p><lb/>
        <p>Die Inder &#x017F;ind das älte&#x017F;te der Brudervölker. Sie haben,<lb/>
wie wir &#x017F;agen dürfen, das gemein&#x017F;ame Vaterhaus am &#x017F;päte&#x017F;ten<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en und die Tradition de&#x017F;&#x017F;elben am treue&#x017F;ten bewahrt.<lb/>
Darauf beruht die über indi&#x017F;che Alterthumskunde weit hinaus¬<lb/>
gehende Bedeutung ihrer Religions&#x017F;chriften; darum haben auch<lb/>
für alle verwandten Stämme die Veden einen urkundlichen<lb/>
Werth; denn &#x017F;ie enthalten eine in &#x017F;ich zu&#x017F;ammenhängende Fülle<lb/>
religiö&#x017F;er Vor&#x017F;tellungen, welche die Inder unzweifelhaft nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[220/0236] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. Dieſe Betrachtung erlaubt uns nicht, ausſchließlich bei den Griechen ſtehen zu bleiben; ſie gehören einem weiteren Völkerkreiſe an, von welchem wir ſie nicht ablöſen können, wenn wir ihr religiöſes Leben in das Auge faſſen. Denn wie der einzelne Menſch ſich unter günſtigen Verhältniſſen in zwie¬ facher Weiſe entwickelt, indem er einmal eine Fülle neuer An¬ ſchauungen, Begriffe und Erfahrungen ſelbſtändig erwirbt, andererſeits aber auch gewiſſe Vorſtellungen und Ueberzeu¬ gungen, welche ſchon bei beginnendem Selbſtbewußtſein in ihm waren, allmählich entwickelt, abklärt und durch Zweifel und Anfechtungen hindurch immer feſter ſich aneignet: ſo fin¬ den wir auch bei den Völkern eine gleiche Entwickelung, und ſo wenig wir die des einzelnen Menſchen begreifen können, wenn wir nicht die geiſtige Atmoſphäre kennen, in welcher er geboren und aufgewachſen iſt, die Ueberlieferung ſeiner Hei¬ math, ſeines Standes und ſeines Vaterhauſes, ſo wenig können wir das geiſtige Leben eines Volks vollſtändig begreifen, wenn wir nicht die Vorſtellungen kennen, welche es als ein gemein¬ ſames Beſitzthum mit anderen Völkern getheilt hat, die ſpäter¬ hin ihre eigenen Wege gegangen ſind. Deshalb iſt es ja für die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes von ſo unſchätzbarer Wichtigkeit, daß der gemeinſame, geiſtige Beſitz jenes Zweigs der Menſchheit, welchem die Inder, die Griechen und die Deutſchen angehören, von Jahr zu Jahr immer klarer her¬ vortritt und, Dank ſei es den unermüdlichen Erforſchern morgen¬ ländiſcher Weisheit! immer leichter auch von denen benutzt werden kann, welche nicht unmittelbar aus den Quellen zu ſchöpfen vermögen. Die Inder ſind das älteſte der Brudervölker. Sie haben, wie wir ſagen dürfen, das gemeinſame Vaterhaus am ſpäteſten verlaſſen und die Tradition deſſelben am treueſten bewahrt. Darauf beruht die über indiſche Alterthumskunde weit hinaus¬ gehende Bedeutung ihrer Religionsſchriften; darum haben auch für alle verwandten Stämme die Veden einen urkundlichen Werth; denn ſie enthalten eine in ſich zuſammenhängende Fülle religiöſer Vorſtellungen, welche die Inder unzweifelhaft nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/236
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/236>, abgerufen am 23.11.2024.