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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
hütet. Auch die Heroensage wird benutzt, um dem Volks¬
glauben gemäß die Hoffnungen der Menschenseele auszudrücken.
Namentlich dient Herakles, das Vorbild menschlicher Kraft und
Tugend, als ein Bürge der Unsterblichkeit, und wie er, der
treue Dulder, endlich zu den Göttern erhöht ist, so hoffen
auch die Menschen nach ihren Kämpfen und Arbeiten auf süße
Ruhe und Kampfeslohn. Das bedeutet der ruhende Heros
auf den Grabsteinen der Griechen. Aber auch als Held er¬
scheint er, der die Pforten des Todes bewältigt, der den
Kerberos bindet und mit gewaltigem Arme die Alkestis aus
der Tiefe des Hades emporhebt, um sie dem Gatten zurück¬
zugeben. Doch wie könnte ich auch nur in flüchtiger Andeu¬
tung die Fülle sinnreicher Erfindung erschöpfen wollen, mit
welcher die Kunst der Hellenen im Tode das Leben zu bilden
gewußt hat!

Ist es aber nur die bildende Kunst, welche sich diesem,
ihr scheinbar so fremdem Gebiete mit solchem Eifer zugewendet
hat? Haben die Dichter etwa in näherem Anschlusse an Homer
diese Gedanken sich ferne gehalten?

So könnte es scheinen, und es ist nicht zu läugnen, daß
die Gedanken an jenseitiges Leben zu denjenigen gehören,
welche die Hellenen in einer sehr natürlichen Scheu und Blö¬
digkeit mehr durch die stumme Poesie des Symbols, als durch
ausführliche Rede auszudrücken liebten. Indessen bedarf es
doch nur der Erinnerung an einige der bekanntesten Werke
der attischen Bühne, um zu erkennen, wie die Verstorbenen
den Mittelpunkt dramatischer Entwickelungen bilden. So ist
es ja mit Agamemnon, der in den Choephoren des Aeschylos
als ein selbstbewußtes und persönliches Wesen herbeigerufen
wird; durch Lieder und Opferspenden beschworen, nähert er
sich der Oberwelt, ein mächtiger Bundesgenosse seiner An¬
gehörigen. So ist auch Oedipus, der Verstorbene, ein segen¬
spendender, das Land schützender Heros, und Sophokles stellt
uns sein Ende nicht nur als eine Erlösung vom Jammer der
Erde dar, sondern auch als eine Entsühnung des fluchbeladenen
Erdensohns, als eine Begnadigung und Verklärung seiner

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Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
hütet. Auch die Heroenſage wird benutzt, um dem Volks¬
glauben gemäß die Hoffnungen der Menſchenſeele auszudrücken.
Namentlich dient Herakles, das Vorbild menſchlicher Kraft und
Tugend, als ein Bürge der Unſterblichkeit, und wie er, der
treue Dulder, endlich zu den Göttern erhöht iſt, ſo hoffen
auch die Menſchen nach ihren Kämpfen und Arbeiten auf ſüße
Ruhe und Kampfeslohn. Das bedeutet der ruhende Heros
auf den Grabſteinen der Griechen. Aber auch als Held er¬
ſcheint er, der die Pforten des Todes bewältigt, der den
Kerberos bindet und mit gewaltigem Arme die Alkeſtis aus
der Tiefe des Hades emporhebt, um ſie dem Gatten zurück¬
zugeben. Doch wie könnte ich auch nur in flüchtiger Andeu¬
tung die Fülle ſinnreicher Erfindung erſchöpfen wollen, mit
welcher die Kunſt der Hellenen im Tode das Leben zu bilden
gewußt hat!

Iſt es aber nur die bildende Kunſt, welche ſich dieſem,
ihr ſcheinbar ſo fremdem Gebiete mit ſolchem Eifer zugewendet
hat? Haben die Dichter etwa in näherem Anſchluſſe an Homer
dieſe Gedanken ſich ferne gehalten?

So könnte es ſcheinen, und es iſt nicht zu läugnen, daß
die Gedanken an jenſeitiges Leben zu denjenigen gehören,
welche die Hellenen in einer ſehr natürlichen Scheu und Blö¬
digkeit mehr durch die ſtumme Poeſie des Symbols, als durch
ausführliche Rede auszudrücken liebten. Indeſſen bedarf es
doch nur der Erinnerung an einige der bekannteſten Werke
der attiſchen Bühne, um zu erkennen, wie die Verſtorbenen
den Mittelpunkt dramatiſcher Entwickelungen bilden. So iſt
es ja mit Agamemnon, der in den Choephoren des Aeſchylos
als ein ſelbſtbewußtes und perſönliches Weſen herbeigerufen
wird; durch Lieder und Opferſpenden beſchworen, nähert er
ſich der Oberwelt, ein mächtiger Bundesgenoſſe ſeiner An¬
gehörigen. So iſt auch Oedipus, der Verſtorbene, ein ſegen¬
ſpendender, das Land ſchützender Heros, und Sophokles ſtellt
uns ſein Ende nicht nur als eine Erlöſung vom Jammer der
Erde dar, ſondern auch als eine Entſühnung des fluchbeladenen
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[227/0243] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. hütet. Auch die Heroenſage wird benutzt, um dem Volks¬ glauben gemäß die Hoffnungen der Menſchenſeele auszudrücken. Namentlich dient Herakles, das Vorbild menſchlicher Kraft und Tugend, als ein Bürge der Unſterblichkeit, und wie er, der treue Dulder, endlich zu den Göttern erhöht iſt, ſo hoffen auch die Menſchen nach ihren Kämpfen und Arbeiten auf ſüße Ruhe und Kampfeslohn. Das bedeutet der ruhende Heros auf den Grabſteinen der Griechen. Aber auch als Held er¬ ſcheint er, der die Pforten des Todes bewältigt, der den Kerberos bindet und mit gewaltigem Arme die Alkeſtis aus der Tiefe des Hades emporhebt, um ſie dem Gatten zurück¬ zugeben. Doch wie könnte ich auch nur in flüchtiger Andeu¬ tung die Fülle ſinnreicher Erfindung erſchöpfen wollen, mit welcher die Kunſt der Hellenen im Tode das Leben zu bilden gewußt hat! Iſt es aber nur die bildende Kunſt, welche ſich dieſem, ihr ſcheinbar ſo fremdem Gebiete mit ſolchem Eifer zugewendet hat? Haben die Dichter etwa in näherem Anſchluſſe an Homer dieſe Gedanken ſich ferne gehalten? So könnte es ſcheinen, und es iſt nicht zu läugnen, daß die Gedanken an jenſeitiges Leben zu denjenigen gehören, welche die Hellenen in einer ſehr natürlichen Scheu und Blö¬ digkeit mehr durch die ſtumme Poeſie des Symbols, als durch ausführliche Rede auszudrücken liebten. Indeſſen bedarf es doch nur der Erinnerung an einige der bekannteſten Werke der attiſchen Bühne, um zu erkennen, wie die Verſtorbenen den Mittelpunkt dramatiſcher Entwickelungen bilden. So iſt es ja mit Agamemnon, der in den Choephoren des Aeſchylos als ein ſelbſtbewußtes und perſönliches Weſen herbeigerufen wird; durch Lieder und Opferſpenden beſchworen, nähert er ſich der Oberwelt, ein mächtiger Bundesgenoſſe ſeiner An¬ gehörigen. So iſt auch Oedipus, der Verſtorbene, ein ſegen¬ ſpendender, das Land ſchützender Heros, und Sophokles ſtellt uns ſein Ende nicht nur als eine Erlöſung vom Jammer der Erde dar, ſondern auch als eine Entſühnung des fluchbeladenen Erdenſohns, als eine Begnadigung und Verklärung ſeiner 15 *

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/243>, abgerufen am 23.11.2024.