Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten. Person. Endlich bewegt sich ja auch der ganze Gedankengangder Antigone um nichts Anderes als um die Forderungen eines Todten. Antigone bricht das Gebot des Tyrannen; sie vollführt den "frommen Frevel," weil sie der höchsten Liebes¬ pflichten eingedenk ist, welche kein Menschenwort beseitigen kann, weil sie weiß, daß sie "längere Zeit den Unteren gefallen muß, als den Oberen." Aber so kräftig auch in den Werken der Kunst wie in der Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. Perſon. Endlich bewegt ſich ja auch der ganze Gedankengangder Antigone um nichts Anderes als um die Forderungen eines Todten. Antigone bricht das Gebot des Tyrannen; ſie vollführt den »frommen Frevel,« weil ſie der höchſten Liebes¬ pflichten eingedenk iſt, welche kein Menſchenwort beſeitigen kann, weil ſie weiß, daß ſie »längere Zeit den Unteren gefallen muß, als den Oberen.« Aber ſo kräftig auch in den Werken der Kunſt wie in der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0244" n="228"/><fw place="top" type="header">Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.<lb/></fw>Perſon. Endlich bewegt ſich ja auch der ganze Gedankengang<lb/> der Antigone um nichts Anderes als um die Forderungen<lb/> eines Todten. Antigone bricht das Gebot des Tyrannen; ſie<lb/> vollführt den »frommen Frevel,« weil ſie der höchſten Liebes¬<lb/> pflichten eingedenk iſt, welche kein Menſchenwort beſeitigen<lb/> kann, weil ſie weiß, daß ſie »längere Zeit den Unteren gefallen<lb/> muß, als den Oberen.«</p><lb/> <p>Aber ſo kräftig auch in den Werken der Kunſt wie in der<lb/> Volksſitte der Griechen die Beziehung der dieſſeitigen Welt<lb/> auf die jenſeitige und der Glaube an die perſönliche Fort¬<lb/> dauer der Menſchenſeele uns entgegentritt, ſo einflußreich der¬<lb/> ſelbe war, um die Stadt- und Staatsgemeinſchaft ſo wie die<lb/> Familie in ihren wechſelnden Generationen zuſammenzuhalten,<lb/> ſo war dem Bedürfniſſe der Hellenen doch noch nicht Genüge<lb/> geſchehen. Die Geiſterwelt trat dennoch im Geräuſche des<lb/> täglichen Lebens ſo wie in dem öffentlichen Gottesdienſte zu<lb/> ſehr zurück; die überlieferten Sagen, denen der wackere Ke¬<lb/> phalos traute, waren zu unbeſtimmt und unverbürgt; ſie<lb/> wurden auch immer mehr verachtet, je mehr die Sophiſtik<lb/> mit ihrer dünkelhaften Scheinbildung den Glauben der Väter<lb/> erſchütterte und zu einem troſtloſen Materialismus führte.<lb/> Denn wenn man wie Kritias im Blute die Menſchenſeele<lb/> ſuchte, ſo konnte freilich von keinem Fortleben des Verſtorbenen<lb/> die Rede ſein. Darum führte die quälende Ungewißheit über<lb/> das Schickſal der Seele und die unſtillbare Sehnſucht nach<lb/> unvergänglichem Weſen dahin, daß neben der Volksreligion<lb/> beſondere Anſtalten ſich bildeten, um dem Bedürfniſſe vollerer<lb/> Befriedigung zu genügen. Es waren Heilsanſtalten, welche<lb/> die Lücken der öffentlichen Religion ergänzten. Darum war<lb/> aber das, was ſie darboten, nicht etwas willkürlich Erfundenes,<lb/> von Philoſophen Erdachtes und außerhalb jedes Zuſammen¬<lb/> hanges mit der Götterwelt Stehendes, ſondern es knüpfte ſich<lb/> an die vom ganzen Volke verehrten Gottheiten an, an die<lb/> älteſten und ehrwürdigſten Göttinnen, welche vorzugsweiſe<lb/> von den ackerbauenden Stämmen angerufen wurden und des¬<lb/> halb im ritterlichen Epos Homer's zurücktreten. In ihrem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [228/0244]
Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
Perſon. Endlich bewegt ſich ja auch der ganze Gedankengang
der Antigone um nichts Anderes als um die Forderungen
eines Todten. Antigone bricht das Gebot des Tyrannen; ſie
vollführt den »frommen Frevel,« weil ſie der höchſten Liebes¬
pflichten eingedenk iſt, welche kein Menſchenwort beſeitigen
kann, weil ſie weiß, daß ſie »längere Zeit den Unteren gefallen
muß, als den Oberen.«
Aber ſo kräftig auch in den Werken der Kunſt wie in der
Volksſitte der Griechen die Beziehung der dieſſeitigen Welt
auf die jenſeitige und der Glaube an die perſönliche Fort¬
dauer der Menſchenſeele uns entgegentritt, ſo einflußreich der¬
ſelbe war, um die Stadt- und Staatsgemeinſchaft ſo wie die
Familie in ihren wechſelnden Generationen zuſammenzuhalten,
ſo war dem Bedürfniſſe der Hellenen doch noch nicht Genüge
geſchehen. Die Geiſterwelt trat dennoch im Geräuſche des
täglichen Lebens ſo wie in dem öffentlichen Gottesdienſte zu
ſehr zurück; die überlieferten Sagen, denen der wackere Ke¬
phalos traute, waren zu unbeſtimmt und unverbürgt; ſie
wurden auch immer mehr verachtet, je mehr die Sophiſtik
mit ihrer dünkelhaften Scheinbildung den Glauben der Väter
erſchütterte und zu einem troſtloſen Materialismus führte.
Denn wenn man wie Kritias im Blute die Menſchenſeele
ſuchte, ſo konnte freilich von keinem Fortleben des Verſtorbenen
die Rede ſein. Darum führte die quälende Ungewißheit über
das Schickſal der Seele und die unſtillbare Sehnſucht nach
unvergänglichem Weſen dahin, daß neben der Volksreligion
beſondere Anſtalten ſich bildeten, um dem Bedürfniſſe vollerer
Befriedigung zu genügen. Es waren Heilsanſtalten, welche
die Lücken der öffentlichen Religion ergänzten. Darum war
aber das, was ſie darboten, nicht etwas willkürlich Erfundenes,
von Philoſophen Erdachtes und außerhalb jedes Zuſammen¬
hanges mit der Götterwelt Stehendes, ſondern es knüpfte ſich
an die vom ganzen Volke verehrten Gottheiten an, an die
älteſten und ehrwürdigſten Göttinnen, welche vorzugsweiſe
von den ackerbauenden Stämmen angerufen wurden und des¬
halb im ritterlichen Epos Homer's zurücktreten. In ihrem
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