Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Gruß.
haften Zusammengehörigkeit, die gemeinsame Freude an dem
unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.

Darum galt dieselbe Ansprache für Götter und Menschen,
für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende
und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.

Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle
nach der Sättigung mit Speise sich zum Wechselgespräche wen¬
dete. Es war der schriftliche Gruß im Briefe, mit dem man
seit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬
depeschen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe sank
der Bote nieder, welcher die Kunde des marathonischen Siegs
nach Athen brachte.

Auch das Leblose beseelte und belebte man durch Sinn¬
sprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuser
und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬
weiser. Denn auch der Wanderer sollte sich auf einsamem
Wege nicht verlassen fühlen, sondern eine freundliche Ansprache
finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬
seliger und gastfreundlicher Gesinnung.

Vor Allem aber stattete man die Gräber mit Grüßen aus,
weil man die Abgeschiedenen nicht in dem gewohnten Kreise
bürgerlicher Gemeinschaft missen wollte, und ihnen galt der¬
selbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er
wird auf Stein geschrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬
übergehenden in den Mund gelegt wird, und so werden die
Gräberstraßen zu Wohnplätzen der Verstorbenen, welche mit
den überlebenden Geschlechtern in stetigem Verkehr bleiben.

Wir sehen, welche Bedeutung das feinsinnige Volk der
Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derselbe
für ihr sittliches und bürgerliches Verhalten gewesen ist.

Lange Zeit haben sie ihren Wahlspruch festgehalten und
mit ihm die schöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er
war. Mit bewundernswürdiger Energie haben sie das Un¬
günstige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im
Schönen zu leben verstanden. Als aber die Harmonie zerriß,
verlor auch der Gruß der Freude seine nationale Bedeutung.

Der Gruß.
haften Zuſammengehörigkeit, die gemeinſame Freude an dem
unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.

Darum galt dieſelbe Anſprache für Götter und Menſchen,
für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende
und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.

Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle
nach der Sättigung mit Speiſe ſich zum Wechſelgeſpräche wen¬
dete. Es war der ſchriftliche Gruß im Briefe, mit dem man
ſeit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬
depeſchen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe ſank
der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoniſchen Siegs
nach Athen brachte.

Auch das Lebloſe beſeelte und belebte man durch Sinn¬
ſprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuſer
und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬
weiſer. Denn auch der Wanderer ſollte ſich auf einſamem
Wege nicht verlaſſen fühlen, ſondern eine freundliche Anſprache
finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬
ſeliger und gaſtfreundlicher Geſinnung.

Vor Allem aber ſtattete man die Gräber mit Grüßen aus,
weil man die Abgeſchiedenen nicht in dem gewohnten Kreiſe
bürgerlicher Gemeinſchaft miſſen wollte, und ihnen galt der¬
ſelbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er
wird auf Stein geſchrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬
übergehenden in den Mund gelegt wird, und ſo werden die
Gräberſtraßen zu Wohnplätzen der Verſtorbenen, welche mit
den überlebenden Geſchlechtern in ſtetigem Verkehr bleiben.

Wir ſehen, welche Bedeutung das feinſinnige Volk der
Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derſelbe
für ihr ſittliches und bürgerliches Verhalten geweſen iſt.

Lange Zeit haben ſie ihren Wahlſpruch feſtgehalten und
mit ihm die ſchöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er
war. Mit bewundernswürdiger Energie haben ſie das Un¬
günſtige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im
Schönen zu leben verſtanden. Als aber die Harmonie zerriß,
verlor auch der Gruß der Freude ſeine nationale Bedeutung.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0256" n="240"/><fw place="top" type="header">Der Gruß.<lb/></fw> haften Zu&#x017F;ammengehörigkeit, die gemein&#x017F;ame Freude an dem<lb/>
unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.</p><lb/>
        <p>Darum galt die&#x017F;elbe An&#x017F;prache für Götter und Men&#x017F;chen,<lb/>
für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende<lb/>
und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.</p><lb/>
        <p>Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle<lb/>
nach der Sättigung mit Spei&#x017F;e &#x017F;ich zum Wech&#x017F;elge&#x017F;präche wen¬<lb/>
dete. Es war der &#x017F;chriftliche Gruß im Briefe, mit dem man<lb/>
&#x017F;eit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬<lb/>
depe&#x017F;chen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe &#x017F;ank<lb/>
der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoni&#x017F;chen Siegs<lb/>
nach Athen brachte.</p><lb/>
        <p>Auch das Leblo&#x017F;e be&#x017F;eelte und belebte man durch Sinn¬<lb/>
&#x017F;prüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häu&#x017F;er<lb/>
und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬<lb/>
wei&#x017F;er. Denn auch der Wanderer &#x017F;ollte &#x017F;ich auf ein&#x017F;amem<lb/>
Wege nicht verla&#x017F;&#x017F;en fühlen, &#x017F;ondern eine freundliche An&#x017F;prache<lb/>
finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬<lb/>
&#x017F;eliger und ga&#x017F;tfreundlicher Ge&#x017F;innung.</p><lb/>
        <p>Vor Allem aber &#x017F;tattete man die Gräber mit Grüßen aus,<lb/>
weil man die Abge&#x017F;chiedenen nicht in dem gewohnten Krei&#x017F;e<lb/>
bürgerlicher Gemein&#x017F;chaft mi&#x017F;&#x017F;en wollte, und ihnen galt der¬<lb/>
&#x017F;elbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er<lb/>
wird auf Stein ge&#x017F;chrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬<lb/>
übergehenden in den Mund gelegt wird, und &#x017F;o werden die<lb/>
Gräber&#x017F;traßen zu Wohnplätzen der Ver&#x017F;torbenen, welche mit<lb/>
den überlebenden Ge&#x017F;chlechtern in &#x017F;tetigem Verkehr bleiben.</p><lb/>
        <p>Wir &#x017F;ehen, welche Bedeutung das fein&#x017F;innige Volk der<lb/>
Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend der&#x017F;elbe<lb/>
für ihr &#x017F;ittliches und bürgerliches Verhalten gewe&#x017F;en i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Lange Zeit haben &#x017F;ie ihren Wahl&#x017F;pruch fe&#x017F;tgehalten und<lb/>
mit ihm die &#x017F;chöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er<lb/>
war. Mit bewundernswürdiger Energie haben &#x017F;ie das Un¬<lb/>
gün&#x017F;tige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im<lb/>
Schönen zu leben ver&#x017F;tanden. Als aber die Harmonie zerriß,<lb/>
verlor auch der Gruß der Freude &#x017F;eine nationale Bedeutung.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0256] Der Gruß. haften Zuſammengehörigkeit, die gemeinſame Freude an dem unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate. Darum galt dieſelbe Anſprache für Götter und Menſchen, für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen. Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle nach der Sättigung mit Speiſe ſich zum Wechſelgeſpräche wen¬ dete. Es war der ſchriftliche Gruß im Briefe, mit dem man ſeit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬ depeſchen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe ſank der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoniſchen Siegs nach Athen brachte. Auch das Lebloſe beſeelte und belebte man durch Sinn¬ ſprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuſer und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬ weiſer. Denn auch der Wanderer ſollte ſich auf einſamem Wege nicht verlaſſen fühlen, ſondern eine freundliche Anſprache finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬ ſeliger und gaſtfreundlicher Geſinnung. Vor Allem aber ſtattete man die Gräber mit Grüßen aus, weil man die Abgeſchiedenen nicht in dem gewohnten Kreiſe bürgerlicher Gemeinſchaft miſſen wollte, und ihnen galt der¬ ſelbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er wird auf Stein geſchrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬ übergehenden in den Mund gelegt wird, und ſo werden die Gräberſtraßen zu Wohnplätzen der Verſtorbenen, welche mit den überlebenden Geſchlechtern in ſtetigem Verkehr bleiben. Wir ſehen, welche Bedeutung das feinſinnige Volk der Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derſelbe für ihr ſittliches und bürgerliches Verhalten geweſen iſt. Lange Zeit haben ſie ihren Wahlſpruch feſtgehalten und mit ihm die ſchöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er war. Mit bewundernswürdiger Energie haben ſie das Un¬ günſtige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im Schönen zu leben verſtanden. Als aber die Harmonie zerriß, verlor auch der Gruß der Freude ſeine nationale Bedeutung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/256
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/256>, abgerufen am 23.11.2024.