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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.

Neben den heiligen Schriften steht das litterarische Ver¬
mächtniß von Jahrtausenden, und über diesem Erbe, dessen
Besitz wir immer vollständiger anzutreten suchen, wuchert von
Jahr zu Jahr eine neue Litteratur, welche, je mehr das Wissen
sich verallgemeinert, desto mehr in das Unermeßliche anwächst,
um das, was seit den Anfängen der Wissenschaft über gött¬
liche und über menschliche Dinge gedacht und beobachtet wor¬
den ist, in jeder Form und Fassung dem lebenden Geschlechte
darzubieten. So kommt es, daß immer entschiedener die Mei¬
nung laut wird, es verliere das Wort mehr und mehr seine
Bedeutung; es könne sich die Jugend schneller und vollständiger
aus Büchern belehren, es würden die Hörsäle durch die Biblio¬
theken überflüssig. Einer solchen Ansicht gegenüber müssen
wir immer wieder zu den Hellenen zurückkehren und eine ein¬
seitige Ueberschätzung des geschriebenen Worts mit allem Ernste
bekämpfen.

Die wahre Wissenschaft soll Erkenntniß und Weisheit
werden; diese bilden aber den innerlichsten Besitz des Menschen;
denn sie gehen in sein sittliches Bewußtsein über und geben
seiner ganzen Persönlichkeit das eigenthümliche Gepräge. Durch
persönliche Berührung kann deshalb allein die richtige Vor¬
stellung von dem gewonnen werden, was die Wissenschaft uns
sein soll; darum wird die persönliche Lehrweise immer die
segensreichere und wirkungsvollere bleiben, weil sie einen be¬
deutenderen sittlichen Einfluß gestattet, während ein Lernen
ohne diesen Einfluß leicht zu dem Glauben verleitet, daß die
Wissenschaft etwas sei, das wie eine Marktwaare von Hand
zu Hand gehen könne, ohne daß die Person des Menschen
dabei betheiligt sei. Bevorzugte Naturen können ungestraft
besondere Wege gehen; der natürliche Weg heilsamer Einwir¬
kung wird immer der bleiben, daß, wie die Bedeutung der
Religion uns in einem frommen Manne und die der Kunst
in einem geborenen Künstler am lebendigsten vor Augen tritt,
so auch das Wesen der Wissenschaft in einem wahren Gelehrten
erkannt werde. Je massenhafter aber die Litteratur anwächst,
um so mehr wird es eine Kunst, diese Masse des Stoffs mit

Wort und Schrift.

Neben den heiligen Schriften ſteht das litterariſche Ver¬
mächtniß von Jahrtauſenden, und über dieſem Erbe, deſſen
Beſitz wir immer vollſtändiger anzutreten ſuchen, wuchert von
Jahr zu Jahr eine neue Litteratur, welche, je mehr das Wiſſen
ſich verallgemeinert, deſto mehr in das Unermeßliche anwächſt,
um das, was ſeit den Anfängen der Wiſſenſchaft über gött¬
liche und über menſchliche Dinge gedacht und beobachtet wor¬
den iſt, in jeder Form und Faſſung dem lebenden Geſchlechte
darzubieten. So kommt es, daß immer entſchiedener die Mei¬
nung laut wird, es verliere das Wort mehr und mehr ſeine
Bedeutung; es könne ſich die Jugend ſchneller und vollſtändiger
aus Büchern belehren, es würden die Hörſäle durch die Biblio¬
theken überflüſſig. Einer ſolchen Anſicht gegenüber müſſen
wir immer wieder zu den Hellenen zurückkehren und eine ein¬
ſeitige Ueberſchätzung des geſchriebenen Worts mit allem Ernſte
bekämpfen.

Die wahre Wiſſenſchaft ſoll Erkenntniß und Weisheit
werden; dieſe bilden aber den innerlichſten Beſitz des Menſchen;
denn ſie gehen in ſein ſittliches Bewußtſein über und geben
ſeiner ganzen Perſönlichkeit das eigenthümliche Gepräge. Durch
perſönliche Berührung kann deshalb allein die richtige Vor¬
ſtellung von dem gewonnen werden, was die Wiſſenſchaft uns
ſein ſoll; darum wird die perſönliche Lehrweiſe immer die
ſegensreichere und wirkungsvollere bleiben, weil ſie einen be¬
deutenderen ſittlichen Einfluß geſtattet, während ein Lernen
ohne dieſen Einfluß leicht zu dem Glauben verleitet, daß die
Wiſſenſchaft etwas ſei, das wie eine Marktwaare von Hand
zu Hand gehen könne, ohne daß die Perſon des Menſchen
dabei betheiligt ſei. Bevorzugte Naturen können ungeſtraft
beſondere Wege gehen; der natürliche Weg heilſamer Einwir¬
kung wird immer der bleiben, daß, wie die Bedeutung der
Religion uns in einem frommen Manne und die der Kunſt
in einem geborenen Künſtler am lebendigſten vor Augen tritt,
ſo auch das Weſen der Wiſſenſchaft in einem wahren Gelehrten
erkannt werde. Je maſſenhafter aber die Litteratur anwächſt,
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[266/0282] Wort und Schrift. Neben den heiligen Schriften ſteht das litterariſche Ver¬ mächtniß von Jahrtauſenden, und über dieſem Erbe, deſſen Beſitz wir immer vollſtändiger anzutreten ſuchen, wuchert von Jahr zu Jahr eine neue Litteratur, welche, je mehr das Wiſſen ſich verallgemeinert, deſto mehr in das Unermeßliche anwächſt, um das, was ſeit den Anfängen der Wiſſenſchaft über gött¬ liche und über menſchliche Dinge gedacht und beobachtet wor¬ den iſt, in jeder Form und Faſſung dem lebenden Geſchlechte darzubieten. So kommt es, daß immer entſchiedener die Mei¬ nung laut wird, es verliere das Wort mehr und mehr ſeine Bedeutung; es könne ſich die Jugend ſchneller und vollſtändiger aus Büchern belehren, es würden die Hörſäle durch die Biblio¬ theken überflüſſig. Einer ſolchen Anſicht gegenüber müſſen wir immer wieder zu den Hellenen zurückkehren und eine ein¬ ſeitige Ueberſchätzung des geſchriebenen Worts mit allem Ernſte bekämpfen. Die wahre Wiſſenſchaft ſoll Erkenntniß und Weisheit werden; dieſe bilden aber den innerlichſten Beſitz des Menſchen; denn ſie gehen in ſein ſittliches Bewußtſein über und geben ſeiner ganzen Perſönlichkeit das eigenthümliche Gepräge. Durch perſönliche Berührung kann deshalb allein die richtige Vor¬ ſtellung von dem gewonnen werden, was die Wiſſenſchaft uns ſein ſoll; darum wird die perſönliche Lehrweiſe immer die ſegensreichere und wirkungsvollere bleiben, weil ſie einen be¬ deutenderen ſittlichen Einfluß geſtattet, während ein Lernen ohne dieſen Einfluß leicht zu dem Glauben verleitet, daß die Wiſſenſchaft etwas ſei, das wie eine Marktwaare von Hand zu Hand gehen könne, ohne daß die Perſon des Menſchen dabei betheiligt ſei. Bevorzugte Naturen können ungeſtraft beſondere Wege gehen; der natürliche Weg heilſamer Einwir¬ kung wird immer der bleiben, daß, wie die Bedeutung der Religion uns in einem frommen Manne und die der Kunſt in einem geborenen Künſtler am lebendigſten vor Augen tritt, ſo auch das Weſen der Wiſſenſchaft in einem wahren Gelehrten erkannt werde. Je maſſenhafter aber die Litteratur anwächſt, um ſo mehr wird es eine Kunſt, dieſe Maſſe des Stoffs mit

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/282>, abgerufen am 23.11.2024.