Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Wort und Schrift.
klarem Blicke zu beherrschen, und wenn diese Kunst mitgetheilt
werden kann, so geschieht es durch persönliches Beispiel.

Ferner giebt es ja in allen Wissenschaften schwebende
Fragen, welche die Gemüther in Spannung halten und selbst
die Leidenschaften aufregen. Wer den Gang der Wissenschaft
kennt, weiß, wie gering die Hoffnung ist, daß durch fortgesetzte
Arbeit der Forscher und Schriftsteller auch nur in den wich¬
tigsten Punkten eine Uebereinstimmung derer, die auf Urtheil
Anspruch machen, erzielt werde. Je mehr man den Stoff
geistig zu durchdringen sucht, um so weiter pflegen die Auf¬
fassungen nach der Verschiedenheit der Individualität aus ein¬
ander zu gehen. Kein gewissenhafter Lehrer kann seine Auf¬
fassung als die unbedingt wahre geltend machen; aber der
Hörer kann in ungleich vollkommenerer Weise als der Leser
von der Ueberzeugung durchdrungen werden, daß es dem Lehrer
um die Wahrheit ein heiliger Ernst sei, und indem dieser
Eindruck sich ihm einprägt und ihn zu gleichem Ernste an¬
feuert, empfängt er dadurch eine bessere Gabe, als wenn er
eine Reihe fertiger Resultate nach Hause trägt. Wohl bezeugt
sich auch in Büchern das geistige Gepräge eines Mannes,
aber wie die Persönlichkeit in ihnen zurücktritt, so auch der
Charakter. Jede mündliche Lehre ist eine That, welche wir
persönlich vertreten; sie ist nicht dem Mißverständnisse und
dem Mißbrauche ausgesetzt, wie das gedruckte Wort, dessen
Wirkung wir nicht berechnen können, das so häufig ohne das
volle Bewußtsein sittlicher Verantwortlichkeit in die Welt hinaus¬
geschickt wird und, wie alle ferntreffenden Waffen, oft den
Feigen dem Tapferen gleichstellt. Je mehr also die Wissen¬
schaft ein Theil unserer Persönlichkeit ist, je mehr es dahin
kommt, daß nach dem Grundsatze der Alten Tugend und Er¬
kenntniß nur die verschiedenen Seiten echter Bildung sind, um
so mehr wird die schriftliche Mittheilung an Kraft und Segen
hinter der mündlichen zurückstehen.

Wie nahe diese Betrachtungen unsern akademischen Beruf
angehen, leuchtet ein. Sie sind aber nicht bestimmt, ängstliche
Gemüther über die Zukunft unserer Universitäten zu beruhigen;

Wort und Schrift.
klarem Blicke zu beherrſchen, und wenn dieſe Kunſt mitgetheilt
werden kann, ſo geſchieht es durch perſönliches Beiſpiel.

Ferner giebt es ja in allen Wiſſenſchaften ſchwebende
Fragen, welche die Gemüther in Spannung halten und ſelbſt
die Leidenſchaften aufregen. Wer den Gang der Wiſſenſchaft
kennt, weiß, wie gering die Hoffnung iſt, daß durch fortgeſetzte
Arbeit der Forſcher und Schriftſteller auch nur in den wich¬
tigſten Punkten eine Uebereinſtimmung derer, die auf Urtheil
Anſpruch machen, erzielt werde. Je mehr man den Stoff
geiſtig zu durchdringen ſucht, um ſo weiter pflegen die Auf¬
faſſungen nach der Verſchiedenheit der Individualität aus ein¬
ander zu gehen. Kein gewiſſenhafter Lehrer kann ſeine Auf¬
faſſung als die unbedingt wahre geltend machen; aber der
Hörer kann in ungleich vollkommenerer Weiſe als der Leſer
von der Ueberzeugung durchdrungen werden, daß es dem Lehrer
um die Wahrheit ein heiliger Ernſt ſei, und indem dieſer
Eindruck ſich ihm einprägt und ihn zu gleichem Ernſte an¬
feuert, empfängt er dadurch eine beſſere Gabe, als wenn er
eine Reihe fertiger Reſultate nach Hauſe trägt. Wohl bezeugt
ſich auch in Büchern das geiſtige Gepräge eines Mannes,
aber wie die Perſönlichkeit in ihnen zurücktritt, ſo auch der
Charakter. Jede mündliche Lehre iſt eine That, welche wir
perſönlich vertreten; ſie iſt nicht dem Mißverſtändniſſe und
dem Mißbrauche ausgeſetzt, wie das gedruckte Wort, deſſen
Wirkung wir nicht berechnen können, das ſo häufig ohne das
volle Bewußtſein ſittlicher Verantwortlichkeit in die Welt hinaus¬
geſchickt wird und, wie alle ferntreffenden Waffen, oft den
Feigen dem Tapferen gleichſtellt. Je mehr alſo die Wiſſen¬
ſchaft ein Theil unſerer Perſönlichkeit iſt, je mehr es dahin
kommt, daß nach dem Grundſatze der Alten Tugend und Er¬
kenntniß nur die verſchiedenen Seiten echter Bildung ſind, um
ſo mehr wird die ſchriftliche Mittheilung an Kraft und Segen
hinter der mündlichen zurückſtehen.

Wie nahe dieſe Betrachtungen unſern akademiſchen Beruf
angehen, leuchtet ein. Sie ſind aber nicht beſtimmt, ängſtliche
Gemüther über die Zukunft unſerer Univerſitäten zu beruhigen;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0283" n="267"/><fw place="top" type="header">Wort und Schrift.<lb/></fw> klarem Blicke zu beherr&#x017F;chen, und wenn die&#x017F;e Kun&#x017F;t mitgetheilt<lb/>
werden kann, &#x017F;o ge&#x017F;chieht es durch per&#x017F;önliches Bei&#x017F;piel.</p><lb/>
        <p>Ferner giebt es ja in allen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;chwebende<lb/>
Fragen, welche die Gemüther in Spannung halten und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
die Leiden&#x017F;chaften aufregen. Wer den Gang der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
kennt, weiß, wie gering die Hoffnung i&#x017F;t, daß durch fortge&#x017F;etzte<lb/>
Arbeit der For&#x017F;cher und Schrift&#x017F;teller auch nur in den wich¬<lb/>
tig&#x017F;ten Punkten eine Ueberein&#x017F;timmung derer, die auf Urtheil<lb/>
An&#x017F;pruch machen, erzielt werde. Je mehr man den Stoff<lb/>
gei&#x017F;tig zu durchdringen &#x017F;ucht, um &#x017F;o weiter pflegen die Auf¬<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ungen nach der Ver&#x017F;chiedenheit der Individualität aus ein¬<lb/>
ander zu gehen. Kein gewi&#x017F;&#x017F;enhafter Lehrer kann &#x017F;eine Auf¬<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ung als die unbedingt wahre geltend machen; aber der<lb/>
Hörer kann in ungleich vollkommenerer Wei&#x017F;e als der Le&#x017F;er<lb/>
von der Ueberzeugung durchdrungen werden, daß es dem Lehrer<lb/>
um die Wahrheit ein heiliger Ern&#x017F;t &#x017F;ei, und indem die&#x017F;er<lb/>
Eindruck &#x017F;ich ihm einprägt und ihn zu gleichem Ern&#x017F;te an¬<lb/>
feuert, empfängt er dadurch eine be&#x017F;&#x017F;ere Gabe, als wenn er<lb/>
eine Reihe fertiger Re&#x017F;ultate nach Hau&#x017F;e trägt. Wohl bezeugt<lb/>
&#x017F;ich auch in Büchern das gei&#x017F;tige Gepräge eines Mannes,<lb/>
aber wie die Per&#x017F;önlichkeit in ihnen zurücktritt, &#x017F;o auch der<lb/>
Charakter. Jede mündliche Lehre i&#x017F;t eine That, welche wir<lb/>
per&#x017F;önlich vertreten; &#x017F;ie i&#x017F;t nicht dem Mißver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
dem Mißbrauche ausge&#x017F;etzt, wie das gedruckte Wort, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Wirkung wir nicht berechnen können, das &#x017F;o häufig ohne das<lb/>
volle Bewußt&#x017F;ein &#x017F;ittlicher Verantwortlichkeit in die Welt hinaus¬<lb/>
ge&#x017F;chickt wird und, wie alle ferntreffenden Waffen, oft den<lb/>
Feigen dem Tapferen gleich&#x017F;tellt. Je mehr al&#x017F;o die Wi&#x017F;&#x017F;en¬<lb/>
&#x017F;chaft ein Theil un&#x017F;erer Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t, je mehr es dahin<lb/>
kommt, daß nach dem Grund&#x017F;atze der Alten Tugend und Er¬<lb/>
kenntniß nur die ver&#x017F;chiedenen Seiten echter Bildung &#x017F;ind, um<lb/>
&#x017F;o mehr wird die &#x017F;chriftliche Mittheilung an Kraft und Segen<lb/>
hinter der mündlichen zurück&#x017F;tehen.</p><lb/>
        <p>Wie nahe die&#x017F;e Betrachtungen un&#x017F;ern akademi&#x017F;chen Beruf<lb/>
angehen, leuchtet ein. Sie &#x017F;ind aber nicht be&#x017F;timmt, äng&#x017F;tliche<lb/>
Gemüther über die Zukunft un&#x017F;erer Univer&#x017F;itäten zu beruhigen;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[267/0283] Wort und Schrift. klarem Blicke zu beherrſchen, und wenn dieſe Kunſt mitgetheilt werden kann, ſo geſchieht es durch perſönliches Beiſpiel. Ferner giebt es ja in allen Wiſſenſchaften ſchwebende Fragen, welche die Gemüther in Spannung halten und ſelbſt die Leidenſchaften aufregen. Wer den Gang der Wiſſenſchaft kennt, weiß, wie gering die Hoffnung iſt, daß durch fortgeſetzte Arbeit der Forſcher und Schriftſteller auch nur in den wich¬ tigſten Punkten eine Uebereinſtimmung derer, die auf Urtheil Anſpruch machen, erzielt werde. Je mehr man den Stoff geiſtig zu durchdringen ſucht, um ſo weiter pflegen die Auf¬ faſſungen nach der Verſchiedenheit der Individualität aus ein¬ ander zu gehen. Kein gewiſſenhafter Lehrer kann ſeine Auf¬ faſſung als die unbedingt wahre geltend machen; aber der Hörer kann in ungleich vollkommenerer Weiſe als der Leſer von der Ueberzeugung durchdrungen werden, daß es dem Lehrer um die Wahrheit ein heiliger Ernſt ſei, und indem dieſer Eindruck ſich ihm einprägt und ihn zu gleichem Ernſte an¬ feuert, empfängt er dadurch eine beſſere Gabe, als wenn er eine Reihe fertiger Reſultate nach Hauſe trägt. Wohl bezeugt ſich auch in Büchern das geiſtige Gepräge eines Mannes, aber wie die Perſönlichkeit in ihnen zurücktritt, ſo auch der Charakter. Jede mündliche Lehre iſt eine That, welche wir perſönlich vertreten; ſie iſt nicht dem Mißverſtändniſſe und dem Mißbrauche ausgeſetzt, wie das gedruckte Wort, deſſen Wirkung wir nicht berechnen können, das ſo häufig ohne das volle Bewußtſein ſittlicher Verantwortlichkeit in die Welt hinaus¬ geſchickt wird und, wie alle ferntreffenden Waffen, oft den Feigen dem Tapferen gleichſtellt. Je mehr alſo die Wiſſen¬ ſchaft ein Theil unſerer Perſönlichkeit iſt, je mehr es dahin kommt, daß nach dem Grundſatze der Alten Tugend und Er¬ kenntniß nur die verſchiedenen Seiten echter Bildung ſind, um ſo mehr wird die ſchriftliche Mittheilung an Kraft und Segen hinter der mündlichen zurückſtehen. Wie nahe dieſe Betrachtungen unſern akademiſchen Beruf angehen, leuchtet ein. Sie ſind aber nicht beſtimmt, ängſtliche Gemüther über die Zukunft unſerer Univerſitäten zu beruhigen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/283
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/283>, abgerufen am 23.11.2024.