Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Der historische Sinn der Griechen.
Weisen mit der Gottheit stehen, und die Weihe, welche auf
ihren Personen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn
fremde Meister, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den
Neid einheimischer Fachgenossen aus einem Lande ausgetrieben
werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen
Sänger aus drohender Gefahr oder rächen seinen Tod an dem
sichern Frevler. Ein gottgesandter Traum hindert den feind¬
lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu stören.
Sokrates und Platon werden am Geburtsfeste der Gottheiten
geboren, mit welchen ihre geistige Thätigkeit in besonderem
Zusammenhange zu stehen schien.

So zieht sich die Sagenbildung, Menschliches und Gött¬
liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geschichte
hinein, und wir können sagen, daß die poetische Thätigkeit,
wie sie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen
pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, so lange ihr
Volksgeist lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich
schließen sich sinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und
Weihgeschenke an. Das Nemesisbild in Rhamnus sollte aus
einem Marmorblocke gemeißelt sein, welchen die Perser in
ihrem Uebermuthe heran geschleppt hätten, um ein Denkmal
ihrer Besiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte
Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬
zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm
seine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬
drücken. So bildete sich überall ein Durcheinander von Wahr¬
heit und Dichtung, an dem man seine Freude haben kann,
wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtseins ins
Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬
kraut emporschießen läßt, während es für den Historiker eine
peinlich schwierige Aufgabe ist, Wirkliches und Erdichtetes zu
scheiden. In manchen Fällen sind sichere Kennzeichen vor¬
handen; man sieht, daß gewisse Erzählungen nur gemacht sind,
um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬
stehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur
der dichtenden Phantasie oder die Wiederkehr derselben Züge

Curtius, Alterthum. 18

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Weiſen mit der Gottheit ſtehen, und die Weihe, welche auf
ihren Perſonen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn
fremde Meiſter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den
Neid einheimiſcher Fachgenoſſen aus einem Lande ausgetrieben
werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen
Sänger aus drohender Gefahr oder rächen ſeinen Tod an dem
ſichern Frevler. Ein gottgeſandter Traum hindert den feind¬
lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu ſtören.
Sokrates und Platon werden am Geburtsfeſte der Gottheiten
geboren, mit welchen ihre geiſtige Thätigkeit in beſonderem
Zuſammenhange zu ſtehen ſchien.

So zieht ſich die Sagenbildung, Menſchliches und Gött¬
liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geſchichte
hinein, und wir können ſagen, daß die poetiſche Thätigkeit,
wie ſie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen
pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, ſo lange ihr
Volksgeiſt lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich
ſchließen ſich ſinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und
Weihgeſchenke an. Das Nemeſisbild in Rhamnus ſollte aus
einem Marmorblocke gemeißelt ſein, welchen die Perſer in
ihrem Uebermuthe heran geſchleppt hätten, um ein Denkmal
ihrer Beſiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte
Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬
zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm
ſeine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬
drücken. So bildete ſich überall ein Durcheinander von Wahr¬
heit und Dichtung, an dem man ſeine Freude haben kann,
wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtſeins ins
Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬
kraut emporſchießen läßt, während es für den Hiſtoriker eine
peinlich ſchwierige Aufgabe iſt, Wirkliches und Erdichtetes zu
ſcheiden. In manchen Fällen ſind ſichere Kennzeichen vor¬
handen; man ſieht, daß gewiſſe Erzählungen nur gemacht ſind,
um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬
ſtehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur
der dichtenden Phantaſie oder die Wiederkehr derſelben Züge

Curtius, Alterthum. 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0289" n="273"/><fw place="top" type="header">Der hi&#x017F;tori&#x017F;che Sinn der Griechen.<lb/></fw> Wei&#x017F;en mit der Gottheit &#x017F;tehen, und die Weihe, welche auf<lb/>
ihren Per&#x017F;onen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn<lb/>
fremde Mei&#x017F;ter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den<lb/>
Neid einheimi&#x017F;cher Fachgeno&#x017F;&#x017F;en aus einem Lande ausgetrieben<lb/>
werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen<lb/>
Sänger aus drohender Gefahr oder rächen &#x017F;einen Tod an dem<lb/>
&#x017F;ichern Frevler. Ein gottge&#x017F;andter Traum hindert den feind¬<lb/>
lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu &#x017F;tören.<lb/>
Sokrates und Platon werden am Geburtsfe&#x017F;te der Gottheiten<lb/>
geboren, mit welchen ihre gei&#x017F;tige Thätigkeit in be&#x017F;onderem<lb/>
Zu&#x017F;ammenhange zu &#x017F;tehen &#x017F;chien.</p><lb/>
        <p>So zieht &#x017F;ich die Sagenbildung, Men&#x017F;chliches und Gött¬<lb/>
liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Ge&#x017F;chichte<lb/>
hinein, und wir können &#x017F;agen, daß die poeti&#x017F;che Thätigkeit,<lb/>
wie &#x017F;ie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen<lb/>
pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, &#x017F;o lange ihr<lb/>
Volksgei&#x017F;t lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich<lb/>
&#x017F;chließen &#x017F;ich &#x017F;innreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und<lb/>
Weihge&#x017F;chenke an. Das Neme&#x017F;isbild in Rhamnus &#x017F;ollte aus<lb/>
einem Marmorblocke gemeißelt &#x017F;ein, welchen die Per&#x017F;er in<lb/>
ihrem Uebermuthe heran ge&#x017F;chleppt hätten, um ein Denkmal<lb/>
ihrer Be&#x017F;iegung von Athen daraus zu machen, und das uralte<lb/>
Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬<lb/>
zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm<lb/>
&#x017F;eine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬<lb/>
drücken. So bildete &#x017F;ich überall ein Durcheinander von Wahr¬<lb/>
heit und Dichtung, an dem man &#x017F;eine Freude haben kann,<lb/>
wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußt&#x017F;eins ins<lb/>
Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬<lb/>
kraut empor&#x017F;chießen läßt, während es für den Hi&#x017F;toriker eine<lb/>
peinlich &#x017F;chwierige Aufgabe i&#x017F;t, Wirkliches und Erdichtetes zu<lb/>
&#x017F;cheiden. In manchen Fällen &#x017F;ind &#x017F;ichere Kennzeichen vor¬<lb/>
handen; man &#x017F;ieht, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Erzählungen nur gemacht &#x017F;ind,<lb/>
um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬<lb/>
&#x017F;tehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur<lb/>
der dichtenden Phanta&#x017F;ie oder die Wiederkehr der&#x017F;elben Züge<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Curtius</hi>, Alterthum. 18<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[273/0289] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Weiſen mit der Gottheit ſtehen, und die Weihe, welche auf ihren Perſonen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn fremde Meiſter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den Neid einheimiſcher Fachgenoſſen aus einem Lande ausgetrieben werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen Sänger aus drohender Gefahr oder rächen ſeinen Tod an dem ſichern Frevler. Ein gottgeſandter Traum hindert den feind¬ lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu ſtören. Sokrates und Platon werden am Geburtsfeſte der Gottheiten geboren, mit welchen ihre geiſtige Thätigkeit in beſonderem Zuſammenhange zu ſtehen ſchien. So zieht ſich die Sagenbildung, Menſchliches und Gött¬ liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geſchichte hinein, und wir können ſagen, daß die poetiſche Thätigkeit, wie ſie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, ſo lange ihr Volksgeiſt lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich ſchließen ſich ſinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und Weihgeſchenke an. Das Nemeſisbild in Rhamnus ſollte aus einem Marmorblocke gemeißelt ſein, welchen die Perſer in ihrem Uebermuthe heran geſchleppt hätten, um ein Denkmal ihrer Beſiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬ zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm ſeine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬ drücken. So bildete ſich überall ein Durcheinander von Wahr¬ heit und Dichtung, an dem man ſeine Freude haben kann, wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtſeins ins Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬ kraut emporſchießen läßt, während es für den Hiſtoriker eine peinlich ſchwierige Aufgabe iſt, Wirkliches und Erdichtetes zu ſcheiden. In manchen Fällen ſind ſichere Kennzeichen vor¬ handen; man ſieht, daß gewiſſe Erzählungen nur gemacht ſind, um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬ ſtehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur der dichtenden Phantaſie oder die Wiederkehr derſelben Züge Curtius, Alterthum. 18

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/289
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/289>, abgerufen am 23.11.2024.