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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
in verschiedenen Ueberlieferungen. Aber in vielen Fällen fehlen
die sicheren Kennzeichen, und zwar nicht nur bei Erzählungen,
welche sich für historische Ueberlieferung ausgeben, sondern
auch bei Aussprüchen, welche bedeutenden Männern zugeschrieben
werden. Es ist bekannt, welche Fülle von Denksprüchen im
Munde des Volks lebte und wie ein guter Theil hellenischer
Lebensphilosophie in ihnen niedergelegt war. Die angeborene
Gabe gnomischer Ausdrucksweise wurde bei den Hellenen sorg¬
fältig geübt, und es gelang ihnen, im entscheidenden Augen¬
blicke ein Wort zu sagen, wie es nicht treffender ersonnen
werden konnte, aber eben so häufig wurde auch nachträglich
ein Wort in Umlauf gesetzt, welches für einen bestimmten Vor¬
gang so passend war, daß es in die Erzählung desselben auf¬
genommen wurde und zu ihrer dramatischen Belebung diente.
Wie schwer ist es, über die historische Gültigkeit solcher Aus¬
sprüche zu urtheilen! Wer will z. B. mit Sicherheit ent¬
scheiden, ob bei Thermopylai wirklich die berühmten Worte
gesprochen sind, daß es sich im Schatten der feindlichen Ge¬
schosse um so besser fechten lasse? Die Griechen selbst hatten
nicht das Bedürfniß, Echtes und Unechtes mit kritischer Kälte
aus einander zu halten; sie glaubten, was sie gerne hörten,
was inhaltsvoll war und charakteristisch, und was den Um¬
ständen und Personen entsprach. Die innere Wahrheit fesselte
und befriedigte sie, die historische Wirklichkeit war ihnen gleich¬
gültig; sie wurde umgestaltet, wo sie ihren Neigungen nicht
entsprach, und schwerlich haben es viele Athener dem Thuky¬
dides Dank gewußt, daß er zuerst den wirlichen Hergang beim
Sturze der Tyrannen mit der nüchternen Wahrheitsliebe des
Historikers festgestellt hat.

Wir halten es für die Aufgabe der Geschichtsforschung,
bei wichtigen Culturepochen die allmähliche Vorbereitung der¬
selben, das Zusammentreffen aller mitwirkenden Ursachen und
die stufenweise fortschreitende Entwickelung nachzuweisen. An¬
ders war es bei den Griechen. Wie sie die Naturereignisse
nicht auf namenlose Kräfte und abstrakte Gesetze zurückführten,
sondern auf persönliche Wesen, die man sich frei handelnd

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
in verſchiedenen Ueberlieferungen. Aber in vielen Fällen fehlen
die ſicheren Kennzeichen, und zwar nicht nur bei Erzählungen,
welche ſich für hiſtoriſche Ueberlieferung ausgeben, ſondern
auch bei Ausſprüchen, welche bedeutenden Männern zugeſchrieben
werden. Es iſt bekannt, welche Fülle von Denkſprüchen im
Munde des Volks lebte und wie ein guter Theil helleniſcher
Lebensphiloſophie in ihnen niedergelegt war. Die angeborene
Gabe gnomiſcher Ausdrucksweiſe wurde bei den Hellenen ſorg¬
fältig geübt, und es gelang ihnen, im entſcheidenden Augen¬
blicke ein Wort zu ſagen, wie es nicht treffender erſonnen
werden konnte, aber eben ſo häufig wurde auch nachträglich
ein Wort in Umlauf geſetzt, welches für einen beſtimmten Vor¬
gang ſo paſſend war, daß es in die Erzählung deſſelben auf¬
genommen wurde und zu ihrer dramatiſchen Belebung diente.
Wie ſchwer iſt es, über die hiſtoriſche Gültigkeit ſolcher Aus¬
ſprüche zu urtheilen! Wer will z. B. mit Sicherheit ent¬
ſcheiden, ob bei Thermopylai wirklich die berühmten Worte
geſprochen ſind, daß es ſich im Schatten der feindlichen Ge¬
ſchoſſe um ſo beſſer fechten laſſe? Die Griechen ſelbſt hatten
nicht das Bedürfniß, Echtes und Unechtes mit kritiſcher Kälte
aus einander zu halten; ſie glaubten, was ſie gerne hörten,
was inhaltsvoll war und charakteriſtiſch, und was den Um¬
ſtänden und Perſonen entſprach. Die innere Wahrheit feſſelte
und befriedigte ſie, die hiſtoriſche Wirklichkeit war ihnen gleich¬
gültig; ſie wurde umgeſtaltet, wo ſie ihren Neigungen nicht
entſprach, und ſchwerlich haben es viele Athener dem Thuky¬
dides Dank gewußt, daß er zuerſt den wirlichen Hergang beim
Sturze der Tyrannen mit der nüchternen Wahrheitsliebe des
Hiſtorikers feſtgeſtellt hat.

Wir halten es für die Aufgabe der Geſchichtsforſchung,
bei wichtigen Culturepochen die allmähliche Vorbereitung der¬
ſelben, das Zuſammentreffen aller mitwirkenden Urſachen und
die ſtufenweiſe fortſchreitende Entwickelung nachzuweiſen. An¬
ders war es bei den Griechen. Wie ſie die Naturereigniſſe
nicht auf namenloſe Kräfte und abſtrakte Geſetze zurückführten,
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[274/0290] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. in verſchiedenen Ueberlieferungen. Aber in vielen Fällen fehlen die ſicheren Kennzeichen, und zwar nicht nur bei Erzählungen, welche ſich für hiſtoriſche Ueberlieferung ausgeben, ſondern auch bei Ausſprüchen, welche bedeutenden Männern zugeſchrieben werden. Es iſt bekannt, welche Fülle von Denkſprüchen im Munde des Volks lebte und wie ein guter Theil helleniſcher Lebensphiloſophie in ihnen niedergelegt war. Die angeborene Gabe gnomiſcher Ausdrucksweiſe wurde bei den Hellenen ſorg¬ fältig geübt, und es gelang ihnen, im entſcheidenden Augen¬ blicke ein Wort zu ſagen, wie es nicht treffender erſonnen werden konnte, aber eben ſo häufig wurde auch nachträglich ein Wort in Umlauf geſetzt, welches für einen beſtimmten Vor¬ gang ſo paſſend war, daß es in die Erzählung deſſelben auf¬ genommen wurde und zu ihrer dramatiſchen Belebung diente. Wie ſchwer iſt es, über die hiſtoriſche Gültigkeit ſolcher Aus¬ ſprüche zu urtheilen! Wer will z. B. mit Sicherheit ent¬ ſcheiden, ob bei Thermopylai wirklich die berühmten Worte geſprochen ſind, daß es ſich im Schatten der feindlichen Ge¬ ſchoſſe um ſo beſſer fechten laſſe? Die Griechen ſelbſt hatten nicht das Bedürfniß, Echtes und Unechtes mit kritiſcher Kälte aus einander zu halten; ſie glaubten, was ſie gerne hörten, was inhaltsvoll war und charakteriſtiſch, und was den Um¬ ſtänden und Perſonen entſprach. Die innere Wahrheit feſſelte und befriedigte ſie, die hiſtoriſche Wirklichkeit war ihnen gleich¬ gültig; ſie wurde umgeſtaltet, wo ſie ihren Neigungen nicht entſprach, und ſchwerlich haben es viele Athener dem Thuky¬ dides Dank gewußt, daß er zuerſt den wirlichen Hergang beim Sturze der Tyrannen mit der nüchternen Wahrheitsliebe des Hiſtorikers feſtgeſtellt hat. Wir halten es für die Aufgabe der Geſchichtsforſchung, bei wichtigen Culturepochen die allmähliche Vorbereitung der¬ ſelben, das Zuſammentreffen aller mitwirkenden Urſachen und die ſtufenweiſe fortſchreitende Entwickelung nachzuweiſen. An¬ ders war es bei den Griechen. Wie ſie die Naturereigniſſe nicht auf namenloſe Kräfte und abſtrakte Geſetze zurückführten, ſondern auf perſönliche Weſen, die man ſich frei handelnd

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/290>, abgerufen am 23.11.2024.