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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der historische Sinn der Griechen.
doch konnte ein Grieche viel eher über einen fremden Staat
gerecht urtheilen, als über die Gegenpartei in der eignen
Stadt. Die Griechen waren von Natur ein leidenschaftliches
Volk; je größer die Energie des politischen Lebens wurde,
um so mehr warf sich die ganze Heftigkeit ihres Tempera¬
ments auf diese Seite, und wo eine demokratische Verfassung
die volle Redefreiheit verbürgte, waren alle Schranken der
Convenienz beseitigt. Auf dem Markte drängte sich Tag für
Tag die Bürgerschaft zusammen, redselig, neugierig, spottlustig.
Alles wurde in die Oeffentlichkeit gezogen; jede Lächerlichkeit,
jeder Fehltritt dem Publikum preisgegeben und ein treffender
Spottname sorgte dafür, daß der Makel nicht so schnell ver¬
gessen wurde. Am meisten hatten natürlich die hervorragenden
Personen unter der Freizüngigkeit zu leiden und darum wurde
die Geschichte der großen Bürger von Athen am meisten ent¬
stellt. Der Marktklatsch ging auch in die Litteratur über,
theils durch die Komödie, welche unbekümmert um die Pflicht
der Treue ihre Porträtfiguren ausmalte, theils durch die
Historiker, welche zeitgenössische Geschichte schrieben und die¬
selbe mit Anekdoten zu würzen beflissen waren. Wer weiß
nicht, wie sehr die Ueberlieferung durch den in Haß und Vor¬
liebe thätigen Parteigeist entstellt ist und daß diese leiden¬
schaftliche Erregtheit in alle Verhältnisse überging und auch
die edelsten Geister ergriff! Nicht nur die Rhetoren behan¬
delten die Geschichte nach ihren augenblicklichen Redezwecken
und wußten ihren Mitbürgern, um ihrem Stolze zu schmeicheln,
glorreiche Erfolge ihrer Politik vorzuspiegeln, welche in dieser
Weise niemals errungen worden waren, sondern auch die Ver¬
fasser größerer Geschichtswerke sahen die ganze Folge der Be¬
gebenheiten nur von einseitigem Parteistandpunkte an, Xenophon
als Lakonist, Polybios als Achäer. Auch zwischen Akademie
und Lyceum herrschte eine Spannung, welche die Philosophen
gegen einander ungerecht machte; ja als die Gegensätze des
politischen Lebens sich längst abgestumpft hatten, gingen die
Parteitendenzen noch immer fort, und in der peripatetischen
Schule erschienen Schriften, die es sich zur Aufgabe stellten,

Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
doch konnte ein Grieche viel eher über einen fremden Staat
gerecht urtheilen, als über die Gegenpartei in der eignen
Stadt. Die Griechen waren von Natur ein leidenſchaftliches
Volk; je größer die Energie des politiſchen Lebens wurde,
um ſo mehr warf ſich die ganze Heftigkeit ihres Tempera¬
ments auf dieſe Seite, und wo eine demokratiſche Verfaſſung
die volle Redefreiheit verbürgte, waren alle Schranken der
Convenienz beſeitigt. Auf dem Markte drängte ſich Tag für
Tag die Bürgerſchaft zuſammen, redſelig, neugierig, ſpottluſtig.
Alles wurde in die Oeffentlichkeit gezogen; jede Lächerlichkeit,
jeder Fehltritt dem Publikum preisgegeben und ein treffender
Spottname ſorgte dafür, daß der Makel nicht ſo ſchnell ver¬
geſſen wurde. Am meiſten hatten natürlich die hervorragenden
Perſonen unter der Freizüngigkeit zu leiden und darum wurde
die Geſchichte der großen Bürger von Athen am meiſten ent¬
ſtellt. Der Marktklatſch ging auch in die Litteratur über,
theils durch die Komödie, welche unbekümmert um die Pflicht
der Treue ihre Porträtfiguren ausmalte, theils durch die
Hiſtoriker, welche zeitgenöſſiſche Geſchichte ſchrieben und die¬
ſelbe mit Anekdoten zu würzen befliſſen waren. Wer weiß
nicht, wie ſehr die Ueberlieferung durch den in Haß und Vor¬
liebe thätigen Parteigeiſt entſtellt iſt und daß dieſe leiden¬
ſchaftliche Erregtheit in alle Verhältniſſe überging und auch
die edelſten Geiſter ergriff! Nicht nur die Rhetoren behan¬
delten die Geſchichte nach ihren augenblicklichen Redezwecken
und wußten ihren Mitbürgern, um ihrem Stolze zu ſchmeicheln,
glorreiche Erfolge ihrer Politik vorzuſpiegeln, welche in dieſer
Weiſe niemals errungen worden waren, ſondern auch die Ver¬
faſſer größerer Geſchichtswerke ſahen die ganze Folge der Be¬
gebenheiten nur von einſeitigem Parteiſtandpunkte an, Xenophon
als Lakoniſt, Polybios als Achäer. Auch zwiſchen Akademie
und Lyceum herrſchte eine Spannung, welche die Philoſophen
gegen einander ungerecht machte; ja als die Gegenſätze des
politiſchen Lebens ſich längſt abgeſtumpft hatten, gingen die
Parteitendenzen noch immer fort, und in der peripatetiſchen
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[279/0295] Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. doch konnte ein Grieche viel eher über einen fremden Staat gerecht urtheilen, als über die Gegenpartei in der eignen Stadt. Die Griechen waren von Natur ein leidenſchaftliches Volk; je größer die Energie des politiſchen Lebens wurde, um ſo mehr warf ſich die ganze Heftigkeit ihres Tempera¬ ments auf dieſe Seite, und wo eine demokratiſche Verfaſſung die volle Redefreiheit verbürgte, waren alle Schranken der Convenienz beſeitigt. Auf dem Markte drängte ſich Tag für Tag die Bürgerſchaft zuſammen, redſelig, neugierig, ſpottluſtig. Alles wurde in die Oeffentlichkeit gezogen; jede Lächerlichkeit, jeder Fehltritt dem Publikum preisgegeben und ein treffender Spottname ſorgte dafür, daß der Makel nicht ſo ſchnell ver¬ geſſen wurde. Am meiſten hatten natürlich die hervorragenden Perſonen unter der Freizüngigkeit zu leiden und darum wurde die Geſchichte der großen Bürger von Athen am meiſten ent¬ ſtellt. Der Marktklatſch ging auch in die Litteratur über, theils durch die Komödie, welche unbekümmert um die Pflicht der Treue ihre Porträtfiguren ausmalte, theils durch die Hiſtoriker, welche zeitgenöſſiſche Geſchichte ſchrieben und die¬ ſelbe mit Anekdoten zu würzen befliſſen waren. Wer weiß nicht, wie ſehr die Ueberlieferung durch den in Haß und Vor¬ liebe thätigen Parteigeiſt entſtellt iſt und daß dieſe leiden¬ ſchaftliche Erregtheit in alle Verhältniſſe überging und auch die edelſten Geiſter ergriff! Nicht nur die Rhetoren behan¬ delten die Geſchichte nach ihren augenblicklichen Redezwecken und wußten ihren Mitbürgern, um ihrem Stolze zu ſchmeicheln, glorreiche Erfolge ihrer Politik vorzuſpiegeln, welche in dieſer Weiſe niemals errungen worden waren, ſondern auch die Ver¬ faſſer größerer Geſchichtswerke ſahen die ganze Folge der Be¬ gebenheiten nur von einſeitigem Parteiſtandpunkte an, Xenophon als Lakoniſt, Polybios als Achäer. Auch zwiſchen Akademie und Lyceum herrſchte eine Spannung, welche die Philoſophen gegen einander ungerecht machte; ja als die Gegenſätze des politiſchen Lebens ſich längſt abgeſtumpft hatten, gingen die Parteitendenzen noch immer fort, und in der peripatetiſchen Schule erſchienen Schriften, die es ſich zur Aufgabe ſtellten,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/295>, abgerufen am 16.06.2024.