über alles Unrecht, an dem die attische Demokratie Schuld sei, ein möglichst vollständiges Sündenregister aufzustellen.
Das sind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der Geschichte, und daraus erklärt sich, warum sie als Pfleger geschichtlicher Wahrheit keine so allgemeine Anerkennung ge¬ funden haben, wie in Poesie, bildender Kunst, Philosophie und Beredsamkeit, und warum sie in einem der wichtigsten Zweige höherer Cultur nach dem Urtheile weiser Männer ihres eig¬ nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬ blieben sind.
Aber sind sie denn in der That zurückgeblieben?
Das ist die Frage, welche uns auf die andere Seite der Betrachtung führt.
Gewiß hat die Geschichte der Hellenen lange einen sagen¬ haften Charakter behalten. Ihre Künstler haben die Historia dargestellt, wie sie Weihrauch streut in die Opferflamme, welche vor dem Homeros entzündet ist, und man hat in der urtheilslosen Ueberschätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬ dauernde Unreife des geschichtlichen Sinns gefunden. Aber man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechischen Volkssage! Da sind keine Nebelbilder, die in unsichere Däm¬ merung zerfließen, keine symbolischen Figuren, die nur etwas bedeuten sollen, was dem religiösen Glauben angehört; sondern helle, lebensvolle Gestalten, die in bestimmten Gegenden zu Hause sind und bestimmten Stämmen angehören. Es sind Gestalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt, aber keine Phantasiegebilde, sondern es sind historische Ge¬ stalten; was sie vollbringen, sind wirklich vollbrachte Thaten griechischer Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürsten übertragen ist. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen noch heute von der Herrschermacht dieser Fürsten, von ihrem Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange hielt man die lykischen Baumeister in Argolis für eitel Fa¬ belei, jetzt sind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬ golis die lykische Technik nachzuweisen. Mit bewunderungs¬ würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; sie
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuld ſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen.
Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der Geſchichte, und daraus erklärt ſich, warum ſie als Pfleger geſchichtlicher Wahrheit keine ſo allgemeine Anerkennung ge¬ funden haben, wie in Poeſie, bildender Kunſt, Philoſophie und Beredſamkeit, und warum ſie in einem der wichtigſten Zweige höherer Cultur nach dem Urtheile weiſer Männer ihres eig¬ nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬ blieben ſind.
Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben?
Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der Betrachtung führt.
Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬ haften Charakter behalten. Ihre Künſtler haben die Hiſtoria dargeſtellt, wie ſie Weihrauch ſtreut in die Opferflamme, welche vor dem Homeros entzündet iſt, und man hat in der urtheilsloſen Ueberſchätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬ dauernde Unreife des geſchichtlichen Sinns gefunden. Aber man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechiſchen Volksſage! Da ſind keine Nebelbilder, die in unſichere Däm¬ merung zerfließen, keine ſymboliſchen Figuren, die nur etwas bedeuten ſollen, was dem religiöſen Glauben angehört; ſondern helle, lebensvolle Geſtalten, die in beſtimmten Gegenden zu Hauſe ſind und beſtimmten Stämmen angehören. Es ſind Geſtalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt, aber keine Phantaſiegebilde, ſondern es ſind hiſtoriſche Ge¬ ſtalten; was ſie vollbringen, ſind wirklich vollbrachte Thaten griechiſcher Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürſten übertragen iſt. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen noch heute von der Herrſchermacht dieſer Fürſten, von ihrem Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange hielt man die lykiſchen Baumeiſter in Argolis für eitel Fa¬ belei, jetzt ſind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬ golis die lykiſche Technik nachzuweiſen. Mit bewunderungs¬ würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; ſie
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuld
ſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen.
Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der
Geſchichte, und daraus erklärt ſich, warum ſie als Pfleger
geſchichtlicher Wahrheit keine ſo allgemeine Anerkennung ge¬
funden haben, wie in Poeſie, bildender Kunſt, Philoſophie und
Beredſamkeit, und warum ſie in einem der wichtigſten Zweige
höherer Cultur nach dem Urtheile weiſer Männer ihres eig¬
nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬
blieben ſind.
Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben?
Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der
Betrachtung führt.
Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬
haften Charakter behalten. Ihre Künſtler haben die Hiſtoria
dargeſtellt, wie ſie Weihrauch ſtreut in die Opferflamme, welche
vor dem Homeros entzündet iſt, und man hat in der urtheilsloſen
Ueberſchätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬
dauernde Unreife des geſchichtlichen Sinns gefunden. Aber
man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechiſchen
Volksſage! Da ſind keine Nebelbilder, die in unſichere Däm¬
merung zerfließen, keine ſymboliſchen Figuren, die nur etwas
bedeuten ſollen, was dem religiöſen Glauben angehört; ſondern
helle, lebensvolle Geſtalten, die in beſtimmten Gegenden zu
Hauſe ſind und beſtimmten Stämmen angehören. Es ſind
Geſtalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt,
aber keine Phantaſiegebilde, ſondern es ſind hiſtoriſche Ge¬
ſtalten; was ſie vollbringen, ſind wirklich vollbrachte Thaten
griechiſcher Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürſten
übertragen iſt. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen
noch heute von der Herrſchermacht dieſer Fürſten, von ihrem
Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange
hielt man die lykiſchen Baumeiſter in Argolis für eitel Fa¬
belei, jetzt ſind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬
golis die lykiſche Technik nachzuweiſen. Mit bewunderungs¬
würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; ſie
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/296>, abgerufen am 23.06.2024.
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