sation erfolgte die Auskundschaftung der Meere und Länder; die Küsten wurden aufgezeichnet, ihre Einwohner beschrieben. Dadurch bekam die Geschichte der Griechen ihren Hintergrund, die Gränzen zwischen Hellenen und Barbaren wurden abge¬ steckt, das Nationalbewußtsein geweckt; der Schauplatz der Geschichte war erforscht, aber die Geschichte fehlte, die zu einer einheitlichen Darstellung geeignet gewesen wäre.
Da beginnt das erste große Drama; der Versuch der Barbaren, Griechenland und seine Colonien in die persisch¬ phönikische Geschichte herein zu ziehen, und die Abwehr dieses Versuchs. Dem Kampfgetümmel folgt wie ein Echo das Werk Herodot's, und zwar ist es kein hochtrabender Panegyricus, sondern ein ruhiges ernstes Weltgemälde, in welchem Freund und Feind mit hohem Wahrheitssinne beurtheilt werden; auch der Ruhm Athens, des Vorkämpfers im Freiheitskriege, ist nicht das Ziel, welches er als Parteigänger im Auge hat, sondern nur das Ergebniß unbefangener Beurtheilung. Athen betritt die glorreiche, aber dornenvolle Bahn eines Staats, welcher im zerfallenen Vaterlande zur Führung sich berufen fühlt; der Kampf zwischen dem perikleischen Athen und Sparta ist die nächste Epoche. Kaum entbrennt der Krieg, so erkennt Thukydides die entscheidende Bedeutung desselben für das Va¬ terland; der Mann, der wie ein Wunder dasteht in der Ge¬ schichte des griechischen Geistes; so eigenartig ist er in seinem ganzen Wesen; ein voller Grieche und doch frei von allen Schwächen, die wir an seinem Volke kennen gelernt haben; mitten im attischen Parteitreiben stehend und doch mit einer unbegreiflichen Erhabenheit und Ruhe des Geistes dasselbe überblickend; ein Mann ohne Vorgänger und Nachfolger, von einer Schärfe des Blicks für historische Verhältnisse, wie wir sie nur bei Aristoteles wiederfinden.
So wie sich neben dem erschöpften Griechenland das make¬ donische Reich erhebt, dessen Fürsten mit klarem Bewußtsein das Ziel verfolgen, durch Verbindung hellenischer Bildung mit nordischer Volkskraft die Führung Griechenlands an ihr Haus zu bringen, so erkennt auch Theopompos den Mittel¬
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
ſation erfolgte die Auskundſchaftung der Meere und Länder; die Küſten wurden aufgezeichnet, ihre Einwohner beſchrieben. Dadurch bekam die Geſchichte der Griechen ihren Hintergrund, die Gränzen zwiſchen Hellenen und Barbaren wurden abge¬ ſteckt, das Nationalbewußtſein geweckt; der Schauplatz der Geſchichte war erforſcht, aber die Geſchichte fehlte, die zu einer einheitlichen Darſtellung geeignet geweſen wäre.
Da beginnt das erſte große Drama; der Verſuch der Barbaren, Griechenland und ſeine Colonien in die perſiſch¬ phönikiſche Geſchichte herein zu ziehen, und die Abwehr dieſes Verſuchs. Dem Kampfgetümmel folgt wie ein Echo das Werk Herodot's, und zwar iſt es kein hochtrabender Panegyricus, ſondern ein ruhiges ernſtes Weltgemälde, in welchem Freund und Feind mit hohem Wahrheitsſinne beurtheilt werden; auch der Ruhm Athens, des Vorkämpfers im Freiheitskriege, iſt nicht das Ziel, welches er als Parteigänger im Auge hat, ſondern nur das Ergebniß unbefangener Beurtheilung. Athen betritt die glorreiche, aber dornenvolle Bahn eines Staats, welcher im zerfallenen Vaterlande zur Führung ſich berufen fühlt; der Kampf zwiſchen dem perikleiſchen Athen und Sparta iſt die nächſte Epoche. Kaum entbrennt der Krieg, ſo erkennt Thukydides die entſcheidende Bedeutung deſſelben für das Va¬ terland; der Mann, der wie ein Wunder daſteht in der Ge¬ ſchichte des griechiſchen Geiſtes; ſo eigenartig iſt er in ſeinem ganzen Weſen; ein voller Grieche und doch frei von allen Schwächen, die wir an ſeinem Volke kennen gelernt haben; mitten im attiſchen Parteitreiben ſtehend und doch mit einer unbegreiflichen Erhabenheit und Ruhe des Geiſtes daſſelbe überblickend; ein Mann ohne Vorgänger und Nachfolger, von einer Schärfe des Blicks für hiſtoriſche Verhältniſſe, wie wir ſie nur bei Ariſtoteles wiederfinden.
So wie ſich neben dem erſchöpften Griechenland das make¬ doniſche Reich erhebt, deſſen Fürſten mit klarem Bewußtſein das Ziel verfolgen, durch Verbindung helleniſcher Bildung mit nordiſcher Volkskraft die Führung Griechenlands an ihr Haus zu bringen, ſo erkennt auch Theopompos den Mittel¬
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Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
ſation erfolgte die Auskundſchaftung der Meere und Länder;
die Küſten wurden aufgezeichnet, ihre Einwohner beſchrieben.
Dadurch bekam die Geſchichte der Griechen ihren Hintergrund,
die Gränzen zwiſchen Hellenen und Barbaren wurden abge¬
ſteckt, das Nationalbewußtſein geweckt; der Schauplatz der
Geſchichte war erforſcht, aber die Geſchichte fehlte, die zu einer
einheitlichen Darſtellung geeignet geweſen wäre.
Da beginnt das erſte große Drama; der Verſuch der
Barbaren, Griechenland und ſeine Colonien in die perſiſch¬
phönikiſche Geſchichte herein zu ziehen, und die Abwehr dieſes
Verſuchs. Dem Kampfgetümmel folgt wie ein Echo das Werk
Herodot's, und zwar iſt es kein hochtrabender Panegyricus,
ſondern ein ruhiges ernſtes Weltgemälde, in welchem Freund
und Feind mit hohem Wahrheitsſinne beurtheilt werden; auch
der Ruhm Athens, des Vorkämpfers im Freiheitskriege, iſt
nicht das Ziel, welches er als Parteigänger im Auge hat,
ſondern nur das Ergebniß unbefangener Beurtheilung. Athen
betritt die glorreiche, aber dornenvolle Bahn eines Staats,
welcher im zerfallenen Vaterlande zur Führung ſich berufen
fühlt; der Kampf zwiſchen dem perikleiſchen Athen und Sparta
iſt die nächſte Epoche. Kaum entbrennt der Krieg, ſo erkennt
Thukydides die entſcheidende Bedeutung deſſelben für das Va¬
terland; der Mann, der wie ein Wunder daſteht in der Ge¬
ſchichte des griechiſchen Geiſtes; ſo eigenartig iſt er in ſeinem
ganzen Weſen; ein voller Grieche und doch frei von allen
Schwächen, die wir an ſeinem Volke kennen gelernt haben;
mitten im attiſchen Parteitreiben ſtehend und doch mit einer
unbegreiflichen Erhabenheit und Ruhe des Geiſtes daſſelbe
überblickend; ein Mann ohne Vorgänger und Nachfolger, von
einer Schärfe des Blicks für hiſtoriſche Verhältniſſe, wie wir
ſie nur bei Ariſtoteles wiederfinden.
So wie ſich neben dem erſchöpften Griechenland das make¬
doniſche Reich erhebt, deſſen Fürſten mit klarem Bewußtſein
das Ziel verfolgen, durch Verbindung helleniſcher Bildung
mit nordiſcher Volkskraft die Führung Griechenlands an ihr
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/299>, abgerufen am 23.06.2024.
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