Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, son¬dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geschichte auch in der Wissenschaft geltend machten. Dionysios durch¬ forschte die römische Vorzeit, um seinen Landsleuten die Römer als ein ebenbürtiges und stammverwandtes Volk darzustellen. Diodoros faßte die Geschichte aller Völker zusammen, welche Rom als Erbschaft untergegangener Reiche beherrschte, und Strabon entwarf sein großes Weltgemälde, mit philoso¬ phischem Geiste das Ganze umfassend und zugleich mit historischer Gelehrsamkeit das Einzelne durchdringend. So kommen wir zu dem Schlusse, daß die Historie mit Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬ forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen. Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬ phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend. So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0302" n="286"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬<lb/> dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte<lb/> auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬<lb/> forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer<lb/> als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen.<lb/> Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche<lb/> Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und<lb/> Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬<lb/> phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit<lb/> hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend.</p><lb/> <p>So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit<lb/> Recht ihren griechiſchen Namen trägt. Bei den Griechen iſt<lb/> ſie als Wiſſenſchaft zu Hauſe; ſie haben Erd- und Völkerkunde<lb/> mit Staatengeſchichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarſte<lb/> Verbindung geſetzt; ſie haben nicht eine Philoſophie der Ge¬<lb/> ſchichte als beſondere Wiſſenſchaft, ſondern die Geſchichte ſelbſt<lb/> mit philoſophiſchem Geiſte als eine ethiſche Wiſſenſchaft ge¬<lb/> gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬<lb/> wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung<lb/> der Gegenwart erkannten, ſie haben auch für die anderen<lb/> Völker gedacht und geſchaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet,<lb/> ihren geſchichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir<lb/> alſo ein gutes Recht, ſie trotz ihrer Schwächen auch auf dem<lb/> Gebiete der Geſchichte als ein hervorragend begabtes Volk<lb/> anzuſehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche<lb/> auch in neuſter Zeit auftauchen, indem man die Geſchichte der<lb/> Menſchheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬<lb/> ſtellen und ſolche Betrachtungsweiſen einführen will, bei welchen<lb/> man ſich von der irrigen Annahme eines freien Menſchen¬<lb/> willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen ſoll,<lb/> haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der<lb/> Geſchichte das Walten ſittlicher Mächte und die Offenbarung<lb/> eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der<lb/> hiſtoriſchen Forſchung die Weihe gegeben, welche zu erhalten<lb/> unſere Aufgabe iſt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [286/0302]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬
dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte
auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬
forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer
als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen.
Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche
Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und
Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬
phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit
hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend.
So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit
Recht ihren griechiſchen Namen trägt. Bei den Griechen iſt
ſie als Wiſſenſchaft zu Hauſe; ſie haben Erd- und Völkerkunde
mit Staatengeſchichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarſte
Verbindung geſetzt; ſie haben nicht eine Philoſophie der Ge¬
ſchichte als beſondere Wiſſenſchaft, ſondern die Geſchichte ſelbſt
mit philoſophiſchem Geiſte als eine ethiſche Wiſſenſchaft ge¬
gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬
wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung
der Gegenwart erkannten, ſie haben auch für die anderen
Völker gedacht und geſchaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet,
ihren geſchichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir
alſo ein gutes Recht, ſie trotz ihrer Schwächen auch auf dem
Gebiete der Geſchichte als ein hervorragend begabtes Volk
anzuſehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche
auch in neuſter Zeit auftauchen, indem man die Geſchichte der
Menſchheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬
ſtellen und ſolche Betrachtungsweiſen einführen will, bei welchen
man ſich von der irrigen Annahme eines freien Menſchen¬
willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen ſoll,
haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der
Geſchichte das Walten ſittlicher Mächte und die Offenbarung
eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der
hiſtoriſchen Forſchung die Weihe gegeben, welche zu erhalten
unſere Aufgabe iſt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |