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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
wider den Staat; hier bilden sich im Gegensatz zu den arbeiten¬
den und schaffenden Parteien die auflösenden, auf das Unglück
des Staats lauernden und zerstörenden. Nun beginnt der Kampf,
in dem sich zeigen muß, ob der Organismus kräftig genug ist,
das Gift auszuscheiden oder zu überwinden. Es ist aber in der
Regel ein unglücklicher Kampf; denn wenn auch die Patrioten
zeitweilig die Oberhand behalten, so erhitzt sich doch die Leiden¬
schaft immer mehr, die Parteien hassen sich gegenseitig mehr
als den gemeinsamen Feind, die Saat des Bösen wuchert
übermächtig und es tritt eine allgemeine Zerrüttung ein, wie
es in Griechenland seit dem fünften Jahre des großen Städte¬
kriegs der Fall war. Alle Ansichten von Sitte und Recht,
selbst die Bedeutungen der Wörter veränderten sich. Besonnene
Vorsicht, sagt Thukydides, nannte man Feigheit, Mäßigung
träge Unentschlossenheit; zufahrende Hitze aber pries man als
männlichen Muth. Nur der Schmähredner fand Glauben. Der
Parteipflicht gegenüber galt keine andere Verpflichtung und
beschworene Aussöhnung nur so lange, als die Mittel zur An¬
feindung fehlten. Unter solchen Verhältnissen besteht der Staat
nur noch äußerlich fort; der Lebensgenius ist entwichen und
die Kräfte, welche er zu gemeinsamem Dienste gebunden ge¬
halten hatte, gehn fessellos aus einander.

Die Betrachtung des Wesens und des Einflusses der Par¬
teien im Alterthume führt uns unmittelbar auf einen zweiten
Gesichtspunkt, zu der Frage, wie sich in Betreff des Partei¬
wesens zur alten Zeit die neue verhalte. Den natürlichen
Menschen der Heidenwelt zügelte in seiner Lust zu hassen keine
Religion, und die alten Aristokraten scheuten sich nicht bei ihren
Göttern zu schwören, daß sie keine Gelegenheit verabsäumen
wollten, dem Volke Böses zu thun. Aber das Christenthum,
das mit einem Friedensgruße in die Welt eintritt, kann doch
unmöglich den Parteikampf auf Erden dulden.

So scheint es, und doch erfüllt es unsere Erwartungen
nicht. Freilich bietet es Frieden jeder einzelnen Seele und
jedem Hause, in welchem man seine Botschaft aufnimmt. Aber
für die Welt ist es keine Religion des Friedens geworden.

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
wider den Staat; hier bilden ſich im Gegenſatz zu den arbeiten¬
den und ſchaffenden Parteien die auflöſenden, auf das Unglück
des Staats lauernden und zerſtörenden. Nun beginnt der Kampf,
in dem ſich zeigen muß, ob der Organismus kräftig genug iſt,
das Gift auszuſcheiden oder zu überwinden. Es iſt aber in der
Regel ein unglücklicher Kampf; denn wenn auch die Patrioten
zeitweilig die Oberhand behalten, ſo erhitzt ſich doch die Leiden¬
ſchaft immer mehr, die Parteien haſſen ſich gegenſeitig mehr
als den gemeinſamen Feind, die Saat des Böſen wuchert
übermächtig und es tritt eine allgemeine Zerrüttung ein, wie
es in Griechenland ſeit dem fünften Jahre des großen Städte¬
kriegs der Fall war. Alle Anſichten von Sitte und Recht,
ſelbſt die Bedeutungen der Wörter veränderten ſich. Beſonnene
Vorſicht, ſagt Thukydides, nannte man Feigheit, Mäßigung
träge Unentſchloſſenheit; zufahrende Hitze aber pries man als
männlichen Muth. Nur der Schmähredner fand Glauben. Der
Parteipflicht gegenüber galt keine andere Verpflichtung und
beſchworene Ausſöhnung nur ſo lange, als die Mittel zur An¬
feindung fehlten. Unter ſolchen Verhältniſſen beſteht der Staat
nur noch äußerlich fort; der Lebensgenius iſt entwichen und
die Kräfte, welche er zu gemeinſamem Dienſte gebunden ge¬
halten hatte, gehn feſſellos aus einander.

Die Betrachtung des Weſens und des Einfluſſes der Par¬
teien im Alterthume führt uns unmittelbar auf einen zweiten
Geſichtspunkt, zu der Frage, wie ſich in Betreff des Partei¬
weſens zur alten Zeit die neue verhalte. Den natürlichen
Menſchen der Heidenwelt zügelte in ſeiner Luſt zu haſſen keine
Religion, und die alten Ariſtokraten ſcheuten ſich nicht bei ihren
Göttern zu ſchwören, daß ſie keine Gelegenheit verabſäumen
wollten, dem Volke Böſes zu thun. Aber das Chriſtenthum,
das mit einem Friedensgruße in die Welt eintritt, kann doch
unmöglich den Parteikampf auf Erden dulden.

So ſcheint es, und doch erfüllt es unſere Erwartungen
nicht. Freilich bietet es Frieden jeder einzelnen Seele und
jedem Hauſe, in welchem man ſeine Botſchaft aufnimmt. Aber
für die Welt iſt es keine Religion des Friedens geworden.

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[328/0344] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. wider den Staat; hier bilden ſich im Gegenſatz zu den arbeiten¬ den und ſchaffenden Parteien die auflöſenden, auf das Unglück des Staats lauernden und zerſtörenden. Nun beginnt der Kampf, in dem ſich zeigen muß, ob der Organismus kräftig genug iſt, das Gift auszuſcheiden oder zu überwinden. Es iſt aber in der Regel ein unglücklicher Kampf; denn wenn auch die Patrioten zeitweilig die Oberhand behalten, ſo erhitzt ſich doch die Leiden¬ ſchaft immer mehr, die Parteien haſſen ſich gegenſeitig mehr als den gemeinſamen Feind, die Saat des Böſen wuchert übermächtig und es tritt eine allgemeine Zerrüttung ein, wie es in Griechenland ſeit dem fünften Jahre des großen Städte¬ kriegs der Fall war. Alle Anſichten von Sitte und Recht, ſelbſt die Bedeutungen der Wörter veränderten ſich. Beſonnene Vorſicht, ſagt Thukydides, nannte man Feigheit, Mäßigung träge Unentſchloſſenheit; zufahrende Hitze aber pries man als männlichen Muth. Nur der Schmähredner fand Glauben. Der Parteipflicht gegenüber galt keine andere Verpflichtung und beſchworene Ausſöhnung nur ſo lange, als die Mittel zur An¬ feindung fehlten. Unter ſolchen Verhältniſſen beſteht der Staat nur noch äußerlich fort; der Lebensgenius iſt entwichen und die Kräfte, welche er zu gemeinſamem Dienſte gebunden ge¬ halten hatte, gehn feſſellos aus einander. Die Betrachtung des Weſens und des Einfluſſes der Par¬ teien im Alterthume führt uns unmittelbar auf einen zweiten Geſichtspunkt, zu der Frage, wie ſich in Betreff des Partei¬ weſens zur alten Zeit die neue verhalte. Den natürlichen Menſchen der Heidenwelt zügelte in ſeiner Luſt zu haſſen keine Religion, und die alten Ariſtokraten ſcheuten ſich nicht bei ihren Göttern zu ſchwören, daß ſie keine Gelegenheit verabſäumen wollten, dem Volke Böſes zu thun. Aber das Chriſtenthum, das mit einem Friedensgruße in die Welt eintritt, kann doch unmöglich den Parteikampf auf Erden dulden. So ſcheint es, und doch erfüllt es unſere Erwartungen nicht. Freilich bietet es Frieden jeder einzelnen Seele und jedem Hauſe, in welchem man ſeine Botſchaft aufnimmt. Aber für die Welt iſt es keine Religion des Friedens geworden.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/344>, abgerufen am 23.11.2024.