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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
das schwierigste Problem moderner Politik darin liegt, daß
die wahre Einsicht immer nur der Besitz einer geringen Zahl
von Volksgenossen ist, während doch dem Volke im Ganzen
ein bestimmender Antheil an der Staatsleitung nicht vorent¬
halten werden kann: so ist dies Problem nur so zu lösen,
daß jene Minorität immer mehr mit wahrer Einsicht aus¬
gerüstet werde, damit sie im Stande sei den Einfluß auszuüben,
welcher in allen Staatsverfassungen das unveräußerliche Recht
einer geistigen Aristokratie ist, um die Menge, welche zwischen
trägem Stumpfsinn und unklarer Aufregung hin und her
schwankt, mit überlegener Geisteskraft zu leiten. Und dazu soll
doch gerade auf unsern Universitäten die Ausrüstung gegeben
werden. Hier müssen also alle Probleme gründlich durchge¬
arbeitet, alle Streitfragen mit ernster Wahrheitsliebe erwogen
werden. Hier muß auch in sittlicher Beziehung der Jugend
das Beispiel gegeben werden, wie man sich in Zeiten der
Parteiung zu verhalten habe.

Und da darf man zuerst mit guter Zuversicht sagen, daß
alle Gefahren einseitiger Parteirichtung hier viel geringer,
alle Auswüchse eines verkehrten Parteitreibens hier unmöglich
sein sollen. Das Suchen nach Wahrheit ist unser gemeinsamer
Beruf. Je freier und mannigfaltiger es sich gestaltet, um so
reicher ist die Blüthe unserer Genossenschaft; in der Lauter¬
keit des Strebens liegt die Weihe unseres Berufs. Darum
ist es unsere erste Pflicht, dies Streben in jedem Genossen zu
ehren, und zwar muß dies eben so wohl von wissenschaftlichen
wie von allen andern redlich gewonnenen und männlich aus¬
gesprochenen Ueberzeugungen gelten; Mißachtung aber ist nur
gegen den berechtigt, welcher aus egoistischen Gründen seine
Ueberzeugung ändert oder unselbständig hin und her schwankt.
Denn die solonische Zumuthung gilt auch für uns in allen
vaterländischen Fragen, und je unabhängiger die Stellung der
Gelehrten ist, um so wichtiger auch ihre Entscheidung. Ge¬
reinigt aber und abgeklärt vom Bodensatze des Gemeinen soll
sich in ihrer Gemeinschaft das Parteiwesen zeigen. Wenn es
daher in anderen Lebenskreisen vorkommt, daß man sich von

Curtius, Alterthum. 22

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
das ſchwierigſte Problem moderner Politik darin liegt, daß
die wahre Einſicht immer nur der Beſitz einer geringen Zahl
von Volksgenoſſen iſt, während doch dem Volke im Ganzen
ein beſtimmender Antheil an der Staatsleitung nicht vorent¬
halten werden kann: ſo iſt dies Problem nur ſo zu löſen,
daß jene Minorität immer mehr mit wahrer Einſicht aus¬
gerüſtet werde, damit ſie im Stande ſei den Einfluß auszuüben,
welcher in allen Staatsverfaſſungen das unveräußerliche Recht
einer geiſtigen Ariſtokratie iſt, um die Menge, welche zwiſchen
trägem Stumpfſinn und unklarer Aufregung hin und her
ſchwankt, mit überlegener Geiſteskraft zu leiten. Und dazu ſoll
doch gerade auf unſern Univerſitäten die Ausrüſtung gegeben
werden. Hier müſſen alſo alle Probleme gründlich durchge¬
arbeitet, alle Streitfragen mit ernſter Wahrheitsliebe erwogen
werden. Hier muß auch in ſittlicher Beziehung der Jugend
das Beiſpiel gegeben werden, wie man ſich in Zeiten der
Parteiung zu verhalten habe.

Und da darf man zuerſt mit guter Zuverſicht ſagen, daß
alle Gefahren einſeitiger Parteirichtung hier viel geringer,
alle Auswüchſe eines verkehrten Parteitreibens hier unmöglich
ſein ſollen. Das Suchen nach Wahrheit iſt unſer gemeinſamer
Beruf. Je freier und mannigfaltiger es ſich geſtaltet, um ſo
reicher iſt die Blüthe unſerer Genoſſenſchaft; in der Lauter¬
keit des Strebens liegt die Weihe unſeres Berufs. Darum
iſt es unſere erſte Pflicht, dies Streben in jedem Genoſſen zu
ehren, und zwar muß dies eben ſo wohl von wiſſenſchaftlichen
wie von allen andern redlich gewonnenen und männlich aus¬
geſprochenen Ueberzeugungen gelten; Mißachtung aber iſt nur
gegen den berechtigt, welcher aus egoiſtiſchen Gründen ſeine
Ueberzeugung ändert oder unſelbſtändig hin und her ſchwankt.
Denn die ſoloniſche Zumuthung gilt auch für uns in allen
vaterländiſchen Fragen, und je unabhängiger die Stellung der
Gelehrten iſt, um ſo wichtiger auch ihre Entſcheidung. Ge¬
reinigt aber und abgeklärt vom Bodenſatze des Gemeinen ſoll
ſich in ihrer Gemeinſchaft das Parteiweſen zeigen. Wenn es
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[337/0353] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. das ſchwierigſte Problem moderner Politik darin liegt, daß die wahre Einſicht immer nur der Beſitz einer geringen Zahl von Volksgenoſſen iſt, während doch dem Volke im Ganzen ein beſtimmender Antheil an der Staatsleitung nicht vorent¬ halten werden kann: ſo iſt dies Problem nur ſo zu löſen, daß jene Minorität immer mehr mit wahrer Einſicht aus¬ gerüſtet werde, damit ſie im Stande ſei den Einfluß auszuüben, welcher in allen Staatsverfaſſungen das unveräußerliche Recht einer geiſtigen Ariſtokratie iſt, um die Menge, welche zwiſchen trägem Stumpfſinn und unklarer Aufregung hin und her ſchwankt, mit überlegener Geiſteskraft zu leiten. Und dazu ſoll doch gerade auf unſern Univerſitäten die Ausrüſtung gegeben werden. Hier müſſen alſo alle Probleme gründlich durchge¬ arbeitet, alle Streitfragen mit ernſter Wahrheitsliebe erwogen werden. Hier muß auch in ſittlicher Beziehung der Jugend das Beiſpiel gegeben werden, wie man ſich in Zeiten der Parteiung zu verhalten habe. Und da darf man zuerſt mit guter Zuverſicht ſagen, daß alle Gefahren einſeitiger Parteirichtung hier viel geringer, alle Auswüchſe eines verkehrten Parteitreibens hier unmöglich ſein ſollen. Das Suchen nach Wahrheit iſt unſer gemeinſamer Beruf. Je freier und mannigfaltiger es ſich geſtaltet, um ſo reicher iſt die Blüthe unſerer Genoſſenſchaft; in der Lauter¬ keit des Strebens liegt die Weihe unſeres Berufs. Darum iſt es unſere erſte Pflicht, dies Streben in jedem Genoſſen zu ehren, und zwar muß dies eben ſo wohl von wiſſenſchaftlichen wie von allen andern redlich gewonnenen und männlich aus¬ geſprochenen Ueberzeugungen gelten; Mißachtung aber iſt nur gegen den berechtigt, welcher aus egoiſtiſchen Gründen ſeine Ueberzeugung ändert oder unſelbſtändig hin und her ſchwankt. Denn die ſoloniſche Zumuthung gilt auch für uns in allen vaterländiſchen Fragen, und je unabhängiger die Stellung der Gelehrten iſt, um ſo wichtiger auch ihre Entſcheidung. Ge¬ reinigt aber und abgeklärt vom Bodenſatze des Gemeinen ſoll ſich in ihrer Gemeinſchaft das Parteiweſen zeigen. Wenn es daher in anderen Lebenskreiſen vorkommt, daß man ſich von Curtius, Alterthum. 22

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/353>, abgerufen am 23.11.2024.