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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
denen, die anderer Farbe sind, schnöde abwendet, ihren Charakter
verdächtigt und es für unmöglich erklärt, mit Leuten dieser Art
umzugehen: so sind dies Kennzeichen einer so niedrigen Bildungs¬
stufe, daß sie auf deutschen Universitäten, welche ihre Ehre un¬
befleckt erhalten, nicht vorkommen können. Hämische Partei¬
intrigue ist eben so unmännlich wie undeutsch, und wissen¬
schaftlichen Männern geziemt es nicht, fachliche Gegenstände
in das Gebiet des Persönlichen zu übertragen. Politische Pro¬
gramme sollen auch keine Glaubensartikel sein, denn wo es
sich um die Beurtheilung einer in voller Bewegung begriffenen
Gegenwart handelt, da hat Jeder zu lernen, und die gemein¬
samen Erfahrungen sollen eine Verständigung erleichtern, damit
nicht eine wohlberechtigte Verschiedenheit der Auffassung zur
Spaltung werde. Dort aber, wo am wenigsten absichtliche
Unwahrheit, wo am wenigsten Beschränktheit, Vorurtheil und
unmännliche Gereiztheit vorauszusetzen ist, da muß doch offen¬
bar die Verständigung am besten gelingen. Deshalb sind die
Universitäten berufen sie herbeizuführen und die über den
Widersprüchen des Tags sich erhebende Einsicht im ganzen
Vaterlande zur Geltung zu bringen. Denn auch die Gegen¬
sätze, welche noch zwischen Nachbarstämmen etwa bestehen, und
die doch wahrlich nicht bestimmt sind, als solche bestehen zu
bleiben, sondern die fruchtbaren und belebenden Elemente einer
neuen Einheit zu werden -- wo können sie besser zur Aus¬
gleichung kommen, als an den Stätten, wo Männer und Jüng¬
linge aus Nord und Süd zusammentreffen, um eine vater¬
ländische Wissenschaft zu pflegen, welche jene Gegensätze längst
überwunden hat? Wenn aber den Gelehrten wohl der Vor¬
wurf gemacht wird, daß sie von theoretischen Standpunkten
die Thatsachen anschauen und das nicht anerkennen wollen,
was ihren Principien widerspricht: so wäre doch ein solcher
Eigensinn auch mit dem Geiste der Wissenschaft unverträglich.
Denn wenn schon die Natur auf allen Gebieten das mensch¬
liche Fachwerk zu Schanden macht und die Fesseln sprengt,
welche ihr eine schulmäßige Systematik anlegt: wie viel we¬
niger wird sich die lebendige Entwickelung der Völker eine

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
denen, die anderer Farbe ſind, ſchnöde abwendet, ihren Charakter
verdächtigt und es für unmöglich erklärt, mit Leuten dieſer Art
umzugehen: ſo ſind dies Kennzeichen einer ſo niedrigen Bildungs¬
ſtufe, daß ſie auf deutſchen Univerſitäten, welche ihre Ehre un¬
befleckt erhalten, nicht vorkommen können. Hämiſche Partei¬
intrigue iſt eben ſo unmännlich wie undeutſch, und wiſſen¬
ſchaftlichen Männern geziemt es nicht, fachliche Gegenſtände
in das Gebiet des Perſönlichen zu übertragen. Politiſche Pro¬
gramme ſollen auch keine Glaubensartikel ſein, denn wo es
ſich um die Beurtheilung einer in voller Bewegung begriffenen
Gegenwart handelt, da hat Jeder zu lernen, und die gemein¬
ſamen Erfahrungen ſollen eine Verſtändigung erleichtern, damit
nicht eine wohlberechtigte Verſchiedenheit der Auffaſſung zur
Spaltung werde. Dort aber, wo am wenigſten abſichtliche
Unwahrheit, wo am wenigſten Beſchränktheit, Vorurtheil und
unmännliche Gereiztheit vorauszuſetzen iſt, da muß doch offen¬
bar die Verſtändigung am beſten gelingen. Deshalb ſind die
Univerſitäten berufen ſie herbeizuführen und die über den
Widerſprüchen des Tags ſich erhebende Einſicht im ganzen
Vaterlande zur Geltung zu bringen. Denn auch die Gegen¬
ſätze, welche noch zwiſchen Nachbarſtämmen etwa beſtehen, und
die doch wahrlich nicht beſtimmt ſind, als ſolche beſtehen zu
bleiben, ſondern die fruchtbaren und belebenden Elemente einer
neuen Einheit zu werden — wo können ſie beſſer zur Aus¬
gleichung kommen, als an den Stätten, wo Männer und Jüng¬
linge aus Nord und Süd zuſammentreffen, um eine vater¬
ländiſche Wiſſenſchaft zu pflegen, welche jene Gegenſätze längſt
überwunden hat? Wenn aber den Gelehrten wohl der Vor¬
wurf gemacht wird, daß ſie von theoretiſchen Standpunkten
die Thatſachen anſchauen und das nicht anerkennen wollen,
was ihren Principien widerſpricht: ſo wäre doch ein ſolcher
Eigenſinn auch mit dem Geiſte der Wiſſenſchaft unverträglich.
Denn wenn ſchon die Natur auf allen Gebieten das menſch¬
liche Fachwerk zu Schanden macht und die Feſſeln ſprengt,
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[338/0354] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. denen, die anderer Farbe ſind, ſchnöde abwendet, ihren Charakter verdächtigt und es für unmöglich erklärt, mit Leuten dieſer Art umzugehen: ſo ſind dies Kennzeichen einer ſo niedrigen Bildungs¬ ſtufe, daß ſie auf deutſchen Univerſitäten, welche ihre Ehre un¬ befleckt erhalten, nicht vorkommen können. Hämiſche Partei¬ intrigue iſt eben ſo unmännlich wie undeutſch, und wiſſen¬ ſchaftlichen Männern geziemt es nicht, fachliche Gegenſtände in das Gebiet des Perſönlichen zu übertragen. Politiſche Pro¬ gramme ſollen auch keine Glaubensartikel ſein, denn wo es ſich um die Beurtheilung einer in voller Bewegung begriffenen Gegenwart handelt, da hat Jeder zu lernen, und die gemein¬ ſamen Erfahrungen ſollen eine Verſtändigung erleichtern, damit nicht eine wohlberechtigte Verſchiedenheit der Auffaſſung zur Spaltung werde. Dort aber, wo am wenigſten abſichtliche Unwahrheit, wo am wenigſten Beſchränktheit, Vorurtheil und unmännliche Gereiztheit vorauszuſetzen iſt, da muß doch offen¬ bar die Verſtändigung am beſten gelingen. Deshalb ſind die Univerſitäten berufen ſie herbeizuführen und die über den Widerſprüchen des Tags ſich erhebende Einſicht im ganzen Vaterlande zur Geltung zu bringen. Denn auch die Gegen¬ ſätze, welche noch zwiſchen Nachbarſtämmen etwa beſtehen, und die doch wahrlich nicht beſtimmt ſind, als ſolche beſtehen zu bleiben, ſondern die fruchtbaren und belebenden Elemente einer neuen Einheit zu werden — wo können ſie beſſer zur Aus¬ gleichung kommen, als an den Stätten, wo Männer und Jüng¬ linge aus Nord und Süd zuſammentreffen, um eine vater¬ ländiſche Wiſſenſchaft zu pflegen, welche jene Gegenſätze längſt überwunden hat? Wenn aber den Gelehrten wohl der Vor¬ wurf gemacht wird, daß ſie von theoretiſchen Standpunkten die Thatſachen anſchauen und das nicht anerkennen wollen, was ihren Principien widerſpricht: ſo wäre doch ein ſolcher Eigenſinn auch mit dem Geiſte der Wiſſenſchaft unverträglich. Denn wenn ſchon die Natur auf allen Gebieten das menſch¬ liche Fachwerk zu Schanden macht und die Feſſeln ſprengt, welche ihr eine ſchulmäßige Syſtematik anlegt: wie viel we¬ niger wird ſich die lebendige Entwickelung der Völker eine

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/354>, abgerufen am 23.11.2024.