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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
Gedränge großer Städte zu Philosophen geworden sind, so
konnte man sich auch nach ihm keine Philosophenschule außer¬
halb Athen denken. Die höchste Blüthe nationaler Dichtung,
das Drama, das ernste wie das komische, konnte nur in der
großen Stadt sich entwickeln. Ja selbst die Dichtungsarten,
welche aus der Uebersättigung an städtischer Cultur und aus
dem Widerspruche hervorgingen, sind in den Großstädten ent¬
standen. Theokrit lebte bald in Alexandrien bald in Syrakus,
und der polternde Satiriker aus Aquinum war immer wieder
in der lärmenden Subura zu finden.

Bei allen leicht fühlbaren Uebelständen giebt doch das
großstädtische Leben gewisse Bürgschaften für gesunde Ent¬
wickelung, wie sie sonst nicht zu finden sind. Die Bewegung
derselben ist das beste Mittel gegen jede Einseitigkeit; sie duldet
nicht, daß gewisse Stimmungen dauernd vorherrschen oder krank¬
hafte Verstimmungen chronisch werden. Sie bringt Menschen
aller Stände zusammen, sie leitet den Einzelnen immer vom
besonderen Fache zu den allgemeinen Interessen des Vaterlan¬
des und der Menschheit zurück; sie befreit von Vorurtheilen,
sie läßt Kleines und Großes im richtigen Verhältnisse auf¬
fassen. Gewiß weiß man nirgends mehr als bei den Deut¬
schen die in jeder anderen Zunge unaussprechliche Gemüth¬
lichkeit zu schätzen, deren sich die kleineren Städte vorzugsweise
rühmen. Um so unbefangener ist daher das Urtheil, welches
die Sprache fällt, indem sie mit dem Worte "kleinstädtisch"
einen sehr bestimmten Tadel ausspricht, dem entgegengesetzten
Worte aber keine Nebenbedeutung anhängt.

Großstädte sind die Plätze, wo nicht nur die nationale
Bildung Abrundung und Vollendung erhält, sondern auch die
Uebergänge zu neuen Bildungsformen sich vorbereiten, wo ge¬
schichtliche Mächte sich zuerst als solche offenbaren und welt¬
bewegende Ideen zum Durchbruche kommen. Während die
Athener unter Demosthenes' Leitung ihr Blut hingaben für die
Größe von Athen, hatte sich hier schon eine durchaus andere
Anschauung Bahn gemacht, welcher die Macht der einzelnen
Stadt gleichgültig war gegen die Ausbreitung der dort ge¬

Große und kleine Städte.
Gedränge großer Städte zu Philoſophen geworden ſind, ſo
konnte man ſich auch nach ihm keine Philoſophenſchule außer¬
halb Athen denken. Die höchſte Blüthe nationaler Dichtung,
das Drama, das ernſte wie das komiſche, konnte nur in der
großen Stadt ſich entwickeln. Ja ſelbſt die Dichtungsarten,
welche aus der Ueberſättigung an ſtädtiſcher Cultur und aus
dem Widerſpruche hervorgingen, ſind in den Großſtädten ent¬
ſtanden. Theokrit lebte bald in Alexandrien bald in Syrakus,
und der polternde Satiriker aus Aquinum war immer wieder
in der lärmenden Subura zu finden.

Bei allen leicht fühlbaren Uebelſtänden giebt doch das
großſtädtiſche Leben gewiſſe Bürgſchaften für geſunde Ent¬
wickelung, wie ſie ſonſt nicht zu finden ſind. Die Bewegung
derſelben iſt das beſte Mittel gegen jede Einſeitigkeit; ſie duldet
nicht, daß gewiſſe Stimmungen dauernd vorherrſchen oder krank¬
hafte Verſtimmungen chroniſch werden. Sie bringt Menſchen
aller Stände zuſammen, ſie leitet den Einzelnen immer vom
beſonderen Fache zu den allgemeinen Intereſſen des Vaterlan¬
des und der Menſchheit zurück; ſie befreit von Vorurtheilen,
ſie läßt Kleines und Großes im richtigen Verhältniſſe auf¬
faſſen. Gewiß weiß man nirgends mehr als bei den Deut¬
ſchen die in jeder anderen Zunge unausſprechliche Gemüth¬
lichkeit zu ſchätzen, deren ſich die kleineren Städte vorzugsweiſe
rühmen. Um ſo unbefangener iſt daher das Urtheil, welches
die Sprache fällt, indem ſie mit dem Worte »kleinſtädtiſch«
einen ſehr beſtimmten Tadel ausſpricht, dem entgegengeſetzten
Worte aber keine Nebenbedeutung anhängt.

Großſtädte ſind die Plätze, wo nicht nur die nationale
Bildung Abrundung und Vollendung erhält, ſondern auch die
Uebergänge zu neuen Bildungsformen ſich vorbereiten, wo ge¬
ſchichtliche Mächte ſich zuerſt als ſolche offenbaren und welt¬
bewegende Ideen zum Durchbruche kommen. Während die
Athener unter Demoſthenes' Leitung ihr Blut hingaben für die
Größe von Athen, hatte ſich hier ſchon eine durchaus andere
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Stadt gleichgültig war gegen die Ausbreitung der dort ge¬

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[378/0394] Große und kleine Städte. Gedränge großer Städte zu Philoſophen geworden ſind, ſo konnte man ſich auch nach ihm keine Philoſophenſchule außer¬ halb Athen denken. Die höchſte Blüthe nationaler Dichtung, das Drama, das ernſte wie das komiſche, konnte nur in der großen Stadt ſich entwickeln. Ja ſelbſt die Dichtungsarten, welche aus der Ueberſättigung an ſtädtiſcher Cultur und aus dem Widerſpruche hervorgingen, ſind in den Großſtädten ent¬ ſtanden. Theokrit lebte bald in Alexandrien bald in Syrakus, und der polternde Satiriker aus Aquinum war immer wieder in der lärmenden Subura zu finden. Bei allen leicht fühlbaren Uebelſtänden giebt doch das großſtädtiſche Leben gewiſſe Bürgſchaften für geſunde Ent¬ wickelung, wie ſie ſonſt nicht zu finden ſind. Die Bewegung derſelben iſt das beſte Mittel gegen jede Einſeitigkeit; ſie duldet nicht, daß gewiſſe Stimmungen dauernd vorherrſchen oder krank¬ hafte Verſtimmungen chroniſch werden. Sie bringt Menſchen aller Stände zuſammen, ſie leitet den Einzelnen immer vom beſonderen Fache zu den allgemeinen Intereſſen des Vaterlan¬ des und der Menſchheit zurück; ſie befreit von Vorurtheilen, ſie läßt Kleines und Großes im richtigen Verhältniſſe auf¬ faſſen. Gewiß weiß man nirgends mehr als bei den Deut¬ ſchen die in jeder anderen Zunge unausſprechliche Gemüth¬ lichkeit zu ſchätzen, deren ſich die kleineren Städte vorzugsweiſe rühmen. Um ſo unbefangener iſt daher das Urtheil, welches die Sprache fällt, indem ſie mit dem Worte »kleinſtädtiſch« einen ſehr beſtimmten Tadel ausſpricht, dem entgegengeſetzten Worte aber keine Nebenbedeutung anhängt. Großſtädte ſind die Plätze, wo nicht nur die nationale Bildung Abrundung und Vollendung erhält, ſondern auch die Uebergänge zu neuen Bildungsformen ſich vorbereiten, wo ge¬ ſchichtliche Mächte ſich zuerſt als ſolche offenbaren und welt¬ bewegende Ideen zum Durchbruche kommen. Während die Athener unter Demoſthenes' Leitung ihr Blut hingaben für die Größe von Athen, hatte ſich hier ſchon eine durchaus andere Anſchauung Bahn gemacht, welcher die Macht der einzelnen Stadt gleichgültig war gegen die Ausbreitung der dort ge¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/394>, abgerufen am 23.11.2024.