Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Große und kleine Städte.
der Blick auf das Alterthum und seine stille Größe; je zer¬
streuender das äußere Leben, um so nothwendiger die Vertie¬
fung des Geistes in sich und das Forschen nach den letzten
Gründen. Wo alle Kräfte in voller Anspannung wirken, da
muß auch die Wissenschaft ihre ganze Macht entfalten, nicht
nur prüfend und sichtend, sondern auch bauend und gestaltend;
Irrthum bekämpfend und den Verstand schärfend, aber auch
den Geist erhebend, das Gemüth erwärmend, den ganzen
Menschen ergreifend, damit allem Tande der Welt das wahr¬
haft Werthvolle, dem Prunke das Einfache, dem Zufälligen
das in sich Nothwendige, dem Flüchtigen und Vergänglichen
das Ewige in voller Berechtigung gegenübertrete.

Und wie trotz aller Unruhe des Lebens hier gearbeitet
und geschaffen werden könne, davon zeugt der Ruhm eines
Alexander von Humboldt, welcher die ganze Fülle des über
die Natur der Dinge Erforschten in ihrem kosmischen Zusam¬
menhange umfaßte, der die Fäden aller bedeutenden Forschun¬
gen und Untersuchungen in dieser Stadt und in seiner Hand
zu vereinigen suchte; davon der Ruhm der Männer, welche
hier der Forschung neue Bahnen öffneten. Nicht gehemmt,
sondern gefördert durch die große Stadt, haben sie auch die
Wissenschaft in großem Stile behandelt und vom Staube der
Gelehrtenstube frei gemacht. Sie haben ihren Arbeiten das
reine Gepräge klassischer Würde zu geben gewußt, wie Savigny;
sie haben mit einem durch umfassende Lebenskenntniß geschärf¬
ten Blicke das Dunkel entlegener Zeiten erhellt, wie Böckh;
und ein Mann wie Schleiermacher -- wer kann ihn sich an¬
ders denken als inmitten einer von allen Culturinteressen be¬
wegten Hauptstadt?

Die Entwickelung menschlicher Cultur zeigt sich vornehm¬
lich darin, daß Gegensätze, welche früher unvermittelt waren,
überwunden werden; auf Ueberwindung derselben und ihrer
störenden Einflüsse beruht der Fortschritt zur Freiheit, in
welchem wir, so Gott will, stetig begriffen sind.

Wenn die Deutschen einst vor der Stadt als dem Grabe
ihrer Unabhängigkeit und Volkssitte ein Grauen hatten, so

Große und kleine Städte.
der Blick auf das Alterthum und ſeine ſtille Größe; je zer¬
ſtreuender das äußere Leben, um ſo nothwendiger die Vertie¬
fung des Geiſtes in ſich und das Forſchen nach den letzten
Gründen. Wo alle Kräfte in voller Anſpannung wirken, da
muß auch die Wiſſenſchaft ihre ganze Macht entfalten, nicht
nur prüfend und ſichtend, ſondern auch bauend und geſtaltend;
Irrthum bekämpfend und den Verſtand ſchärfend, aber auch
den Geiſt erhebend, das Gemüth erwärmend, den ganzen
Menſchen ergreifend, damit allem Tande der Welt das wahr¬
haft Werthvolle, dem Prunke das Einfache, dem Zufälligen
das in ſich Nothwendige, dem Flüchtigen und Vergänglichen
das Ewige in voller Berechtigung gegenübertrete.

Und wie trotz aller Unruhe des Lebens hier gearbeitet
und geſchaffen werden könne, davon zeugt der Ruhm eines
Alexander von Humboldt, welcher die ganze Fülle des über
die Natur der Dinge Erforſchten in ihrem kosmiſchen Zuſam¬
menhange umfaßte, der die Fäden aller bedeutenden Forſchun¬
gen und Unterſuchungen in dieſer Stadt und in ſeiner Hand
zu vereinigen ſuchte; davon der Ruhm der Männer, welche
hier der Forſchung neue Bahnen öffneten. Nicht gehemmt,
ſondern gefördert durch die große Stadt, haben ſie auch die
Wiſſenſchaft in großem Stile behandelt und vom Staube der
Gelehrtenſtube frei gemacht. Sie haben ihren Arbeiten das
reine Gepräge klaſſiſcher Würde zu geben gewußt, wie Savigny;
ſie haben mit einem durch umfaſſende Lebenskenntniß geſchärf¬
ten Blicke das Dunkel entlegener Zeiten erhellt, wie Böckh;
und ein Mann wie Schleiermacher — wer kann ihn ſich an¬
ders denken als inmitten einer von allen Culturintereſſen be¬
wegten Hauptſtadt?

Die Entwickelung menſchlicher Cultur zeigt ſich vornehm¬
lich darin, daß Gegenſätze, welche früher unvermittelt waren,
überwunden werden; auf Ueberwindung derſelben und ihrer
ſtörenden Einflüſſe beruht der Fortſchritt zur Freiheit, in
welchem wir, ſo Gott will, ſtetig begriffen ſind.

Wenn die Deutſchen einſt vor der Stadt als dem Grabe
ihrer Unabhängigkeit und Volksſitte ein Grauen hatten, ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0396" n="380"/><fw place="top" type="header">Große und kleine Städte.<lb/></fw> der Blick auf das Alterthum und &#x017F;eine &#x017F;tille Größe; je zer¬<lb/>
&#x017F;treuender das äußere Leben, um &#x017F;o nothwendiger die Vertie¬<lb/>
fung des Gei&#x017F;tes in &#x017F;ich und das For&#x017F;chen nach den letzten<lb/>
Gründen. Wo alle Kräfte in voller An&#x017F;pannung wirken, da<lb/>
muß auch die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft ihre ganze Macht entfalten, nicht<lb/>
nur prüfend und &#x017F;ichtend, &#x017F;ondern auch bauend und ge&#x017F;taltend;<lb/>
Irrthum bekämpfend und den Ver&#x017F;tand &#x017F;chärfend, aber auch<lb/>
den Gei&#x017F;t erhebend, das Gemüth erwärmend, den ganzen<lb/>
Men&#x017F;chen ergreifend, damit allem Tande der Welt das wahr¬<lb/>
haft Werthvolle, dem Prunke das Einfache, dem Zufälligen<lb/>
das in &#x017F;ich Nothwendige, dem Flüchtigen und Vergänglichen<lb/>
das Ewige in voller Berechtigung gegenübertrete.</p><lb/>
        <p>Und wie trotz aller Unruhe des Lebens hier gearbeitet<lb/>
und ge&#x017F;chaffen werden könne, davon zeugt der Ruhm eines<lb/>
Alexander von Humboldt, welcher die ganze Fülle des über<lb/>
die Natur der Dinge Erfor&#x017F;chten in ihrem kosmi&#x017F;chen Zu&#x017F;am¬<lb/>
menhange umfaßte, der die Fäden aller bedeutenden For&#x017F;chun¬<lb/>
gen und Unter&#x017F;uchungen in die&#x017F;er Stadt und in &#x017F;einer Hand<lb/>
zu vereinigen &#x017F;uchte; davon der Ruhm der Männer, welche<lb/>
hier der For&#x017F;chung neue Bahnen öffneten. Nicht gehemmt,<lb/>
&#x017F;ondern gefördert durch die große Stadt, haben &#x017F;ie auch die<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in großem Stile behandelt und vom Staube der<lb/>
Gelehrten&#x017F;tube frei gemacht. Sie haben ihren Arbeiten das<lb/>
reine Gepräge kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;cher Würde zu geben gewußt, wie Savigny;<lb/>
&#x017F;ie haben mit einem durch umfa&#x017F;&#x017F;ende Lebenskenntniß ge&#x017F;chärf¬<lb/>
ten Blicke das Dunkel entlegener Zeiten erhellt, wie Böckh;<lb/>
und ein Mann wie Schleiermacher &#x2014; wer kann ihn &#x017F;ich an¬<lb/>
ders denken als inmitten einer von allen Culturintere&#x017F;&#x017F;en be¬<lb/>
wegten Haupt&#x017F;tadt?</p><lb/>
        <p>Die Entwickelung men&#x017F;chlicher Cultur zeigt &#x017F;ich vornehm¬<lb/>
lich darin, daß Gegen&#x017F;ätze, welche früher unvermittelt waren,<lb/>
überwunden werden; auf Ueberwindung der&#x017F;elben und ihrer<lb/>
&#x017F;törenden Einflü&#x017F;&#x017F;e beruht der Fort&#x017F;chritt zur Freiheit, in<lb/>
welchem wir, &#x017F;o Gott will, &#x017F;tetig begriffen &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Wenn die Deut&#x017F;chen ein&#x017F;t vor der Stadt als dem Grabe<lb/>
ihrer Unabhängigkeit und Volks&#x017F;itte ein Grauen hatten, &#x017F;o<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[380/0396] Große und kleine Städte. der Blick auf das Alterthum und ſeine ſtille Größe; je zer¬ ſtreuender das äußere Leben, um ſo nothwendiger die Vertie¬ fung des Geiſtes in ſich und das Forſchen nach den letzten Gründen. Wo alle Kräfte in voller Anſpannung wirken, da muß auch die Wiſſenſchaft ihre ganze Macht entfalten, nicht nur prüfend und ſichtend, ſondern auch bauend und geſtaltend; Irrthum bekämpfend und den Verſtand ſchärfend, aber auch den Geiſt erhebend, das Gemüth erwärmend, den ganzen Menſchen ergreifend, damit allem Tande der Welt das wahr¬ haft Werthvolle, dem Prunke das Einfache, dem Zufälligen das in ſich Nothwendige, dem Flüchtigen und Vergänglichen das Ewige in voller Berechtigung gegenübertrete. Und wie trotz aller Unruhe des Lebens hier gearbeitet und geſchaffen werden könne, davon zeugt der Ruhm eines Alexander von Humboldt, welcher die ganze Fülle des über die Natur der Dinge Erforſchten in ihrem kosmiſchen Zuſam¬ menhange umfaßte, der die Fäden aller bedeutenden Forſchun¬ gen und Unterſuchungen in dieſer Stadt und in ſeiner Hand zu vereinigen ſuchte; davon der Ruhm der Männer, welche hier der Forſchung neue Bahnen öffneten. Nicht gehemmt, ſondern gefördert durch die große Stadt, haben ſie auch die Wiſſenſchaft in großem Stile behandelt und vom Staube der Gelehrtenſtube frei gemacht. Sie haben ihren Arbeiten das reine Gepräge klaſſiſcher Würde zu geben gewußt, wie Savigny; ſie haben mit einem durch umfaſſende Lebenskenntniß geſchärf¬ ten Blicke das Dunkel entlegener Zeiten erhellt, wie Böckh; und ein Mann wie Schleiermacher — wer kann ihn ſich an¬ ders denken als inmitten einer von allen Culturintereſſen be¬ wegten Hauptſtadt? Die Entwickelung menſchlicher Cultur zeigt ſich vornehm¬ lich darin, daß Gegenſätze, welche früher unvermittelt waren, überwunden werden; auf Ueberwindung derſelben und ihrer ſtörenden Einflüſſe beruht der Fortſchritt zur Freiheit, in welchem wir, ſo Gott will, ſtetig begriffen ſind. Wenn die Deutſchen einſt vor der Stadt als dem Grabe ihrer Unabhängigkeit und Volksſitte ein Grauen hatten, ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/396
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/396>, abgerufen am 03.06.2024.