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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
einen solchen noch heute wirksamen Einfluß des südlichen
Himmels, und auch jüngere Dichter haben es erfahren, daß
man in den klassischen Ländern unwillkürlich zu rhythmischen
Maßen greift.

Aber dem Segen geht der Unsegen zur Seite. Die Leich¬
tigkeit des Lebens läßt die sittliche Spannkraft nicht zu voller
Entwickelung kommen und aller Himmelsgunst zum Trotz sind
die schönsten Mittelmeerländer weit hinter den Ländern zurück¬
geblieben, von denen man zuweilen glauben möchte, daß sie
nur mißbräuchlich oder aus Mangel an besserem Platz von
Menschenkindern bewohnt werden. Einem Gifte gleich hat
des Südens Sonne am Mark der Nordländer gezehrt, die
sich von ihrem Reize haben fesseln lassen und das Sprichwort
bewähren, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandle.
Auch Einheimischen, die im Norden gelebt, erscheint es un¬
möglich, im Vaterlande ihr arbeitsames Leben fortzusetzen.
Man ist fast dahin gekommen, anzunehmen, daß einem Natur¬
gesetze zu Folge dem Südländer keine solche Energie des
geistigen Lebens zuzumuthen und von den südlichen Staaten
keine volle und selbständige Entwickelung bürgerlicher Ordnung
und solider Rechtsverhältnisse zu erwarten sei, daß die Wissen¬
schaft mit ihren höchsten Anforderungen, daß die Religion in
ihrer einfachen Wahrheit und ihrem sittlichen Ernste dort keinen
Boden finde.

Wenn wir solche Beobachtungen machen, wie groß er¬
scheinen uns dann die Alten, welche alle Vortheile des Südens
zu verwerthen wußten, ohne den Nachtheilen zu erliegen! Es
wird so viel vom Cultus der Schönheit bei den Alten geredet
und die ästhetische Seite des Griechenthums über die Maßen
betont. Das wahrhaft Bewunderungswürdige -- das ist die
Energie und Consequenz in Allem, was die Hellenen der guten
Zeit gemacht haben, die resolute Durchführung ihrer Lebens¬
aufgaben in Staat, Wissenschaft und Kunst, die Klarheit der
Gedanken, der volle und wahre Ausdruck derselben in ihren
Werken und die unerreichte Tüchtigkeit auch in den geringsten
Leistungen. Wie sehr beschämen sie dadurch auch unsere Zeit,

Das alte und neue Griechenland.
einen ſolchen noch heute wirkſamen Einfluß des ſüdlichen
Himmels, und auch jüngere Dichter haben es erfahren, daß
man in den klaſſiſchen Ländern unwillkürlich zu rhythmiſchen
Maßen greift.

Aber dem Segen geht der Unſegen zur Seite. Die Leich¬
tigkeit des Lebens läßt die ſittliche Spannkraft nicht zu voller
Entwickelung kommen und aller Himmelsgunſt zum Trotz ſind
die ſchönſten Mittelmeerländer weit hinter den Ländern zurück¬
geblieben, von denen man zuweilen glauben möchte, daß ſie
nur mißbräuchlich oder aus Mangel an beſſerem Platz von
Menſchenkindern bewohnt werden. Einem Gifte gleich hat
des Südens Sonne am Mark der Nordländer gezehrt, die
ſich von ihrem Reize haben feſſeln laſſen und das Sprichwort
bewähren, daß man nicht ungeſtraft unter Palmen wandle.
Auch Einheimiſchen, die im Norden gelebt, erſcheint es un¬
möglich, im Vaterlande ihr arbeitſames Leben fortzuſetzen.
Man iſt faſt dahin gekommen, anzunehmen, daß einem Natur¬
geſetze zu Folge dem Südländer keine ſolche Energie des
geiſtigen Lebens zuzumuthen und von den ſüdlichen Staaten
keine volle und ſelbſtändige Entwickelung bürgerlicher Ordnung
und ſolider Rechtsverhältniſſe zu erwarten ſei, daß die Wiſſen¬
ſchaft mit ihren höchſten Anforderungen, daß die Religion in
ihrer einfachen Wahrheit und ihrem ſittlichen Ernſte dort keinen
Boden finde.

Wenn wir ſolche Beobachtungen machen, wie groß er¬
ſcheinen uns dann die Alten, welche alle Vortheile des Südens
zu verwerthen wußten, ohne den Nachtheilen zu erliegen! Es
wird ſo viel vom Cultus der Schönheit bei den Alten geredet
und die äſthetiſche Seite des Griechenthums über die Maßen
betont. Das wahrhaft Bewunderungswürdige — das iſt die
Energie und Conſequenz in Allem, was die Hellenen der guten
Zeit gemacht haben, die reſolute Durchführung ihrer Lebens¬
aufgaben in Staat, Wiſſenſchaft und Kunſt, die Klarheit der
Gedanken, der volle und wahre Ausdruck derſelben in ihren
Werken und die unerreichte Tüchtigkeit auch in den geringſten
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[36/0052] Das alte und neue Griechenland. einen ſolchen noch heute wirkſamen Einfluß des ſüdlichen Himmels, und auch jüngere Dichter haben es erfahren, daß man in den klaſſiſchen Ländern unwillkürlich zu rhythmiſchen Maßen greift. Aber dem Segen geht der Unſegen zur Seite. Die Leich¬ tigkeit des Lebens läßt die ſittliche Spannkraft nicht zu voller Entwickelung kommen und aller Himmelsgunſt zum Trotz ſind die ſchönſten Mittelmeerländer weit hinter den Ländern zurück¬ geblieben, von denen man zuweilen glauben möchte, daß ſie nur mißbräuchlich oder aus Mangel an beſſerem Platz von Menſchenkindern bewohnt werden. Einem Gifte gleich hat des Südens Sonne am Mark der Nordländer gezehrt, die ſich von ihrem Reize haben feſſeln laſſen und das Sprichwort bewähren, daß man nicht ungeſtraft unter Palmen wandle. Auch Einheimiſchen, die im Norden gelebt, erſcheint es un¬ möglich, im Vaterlande ihr arbeitſames Leben fortzuſetzen. Man iſt faſt dahin gekommen, anzunehmen, daß einem Natur¬ geſetze zu Folge dem Südländer keine ſolche Energie des geiſtigen Lebens zuzumuthen und von den ſüdlichen Staaten keine volle und ſelbſtändige Entwickelung bürgerlicher Ordnung und ſolider Rechtsverhältniſſe zu erwarten ſei, daß die Wiſſen¬ ſchaft mit ihren höchſten Anforderungen, daß die Religion in ihrer einfachen Wahrheit und ihrem ſittlichen Ernſte dort keinen Boden finde. Wenn wir ſolche Beobachtungen machen, wie groß er¬ ſcheinen uns dann die Alten, welche alle Vortheile des Südens zu verwerthen wußten, ohne den Nachtheilen zu erliegen! Es wird ſo viel vom Cultus der Schönheit bei den Alten geredet und die äſthetiſche Seite des Griechenthums über die Maßen betont. Das wahrhaft Bewunderungswürdige — das iſt die Energie und Conſequenz in Allem, was die Hellenen der guten Zeit gemacht haben, die reſolute Durchführung ihrer Lebens¬ aufgaben in Staat, Wiſſenſchaft und Kunſt, die Klarheit der Gedanken, der volle und wahre Ausdruck derſelben in ihren Werken und die unerreichte Tüchtigkeit auch in den geringſten Leiſtungen. Wie ſehr beſchämen ſie dadurch auch unſere Zeit,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/52>, abgerufen am 27.11.2024.