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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
die mit ihrer Cultur so groß thut! Die griechischen Werk¬
meister würden noch heute auf jeder Weltausstellung ihre
vollen Preise gewinnen, und wenn das glänzende Neapel von
dem Schicksale Pompeji's betroffen würde, so wäre die Ver¬
schüttung des Museums der größte Verlust, und man hätte
nichts Wichtigeres zu thun, als die geretteten Meisterwerke
alter Kunst und Industrie zum zweiten Male aus der Asche
zu holen.

Wie man also nur auf klassischem Boden die alte Welt
in ihrer vollen Realität kennen zu lernen und zu würdigen im
Stande ist, und zwar nach ihren örtlichen Verschiedenheiten
(denn wie verschieden zeigt sich auch in den Stadtruinen und
Kunstresten das Griechenthum Attica's, Siciliens und Cam¬
paniens!) -- so auch den Gegensatz der alten und neuen Welt.
Die weltgeschichtlichen Momente des erbitterten Kampfes treten
uns lebendig entgegen. Sämmtliche Alterthümer Athens zeugen
davon, wie mit wahnsinnigem Fanatismus alle Bildwerke,
auch die harmlosesten Grabreliefs, wie Teufelswerk betrachtet
und verstümmelt worden sind, als wenn die Vernichtung ihrer
Schönheit ein Gottesdienst wäre. Man sieht, mit welcher
Mühe die Felsaltäre zerschlagen worden sind, und erkennt
daran, daß diese ältesten Stätten eines bildlosen Cultus bis
zuletzt mit besonderem Eifer gepflegt worden sind. Und den¬
noch konnte das Gefühl einer gewissen Anhänglichkeit und
Ehrerbietung nicht ganz zurückgedrängt werden; dennoch zog
sich der neue Gottesdienst an die Stätten des alten. Jede
Kapelle ist ein Fingerzeig für die Statistik des alten Cultus;
Feste und Gebräuche aller Art sind in die neue Zeit herüber¬
genommen und selbst von Bildwerken suchte man nun die
Bruchstücke zusammen, um sie, wie es noch heute geschieht,
an Kapellen und Wohnungen als Schmuck einzufügen und so
dem völligen Untergange zu entziehen.

Und nun das jetzige Volk. Nimmt es nicht auch ein
allgemeines Interesse in Anspruch? Der neue Eintritt des
Griechenvolks in die Geschichte und das Wiederaufleben seiner
alten Sprache -- das sind Thatsachen, wie sie selten in der

Das alte und neue Griechenland.
die mit ihrer Cultur ſo groß thut! Die griechiſchen Werk¬
meiſter würden noch heute auf jeder Weltausſtellung ihre
vollen Preiſe gewinnen, und wenn das glänzende Neapel von
dem Schickſale Pompeji's betroffen würde, ſo wäre die Ver¬
ſchüttung des Muſeums der größte Verluſt, und man hätte
nichts Wichtigeres zu thun, als die geretteten Meiſterwerke
alter Kunſt und Induſtrie zum zweiten Male aus der Aſche
zu holen.

Wie man alſo nur auf klaſſiſchem Boden die alte Welt
in ihrer vollen Realität kennen zu lernen und zu würdigen im
Stande iſt, und zwar nach ihren örtlichen Verſchiedenheiten
(denn wie verſchieden zeigt ſich auch in den Stadtruinen und
Kunſtreſten das Griechenthum Attica's, Siciliens und Cam¬
paniens!) — ſo auch den Gegenſatz der alten und neuen Welt.
Die weltgeſchichtlichen Momente des erbitterten Kampfes treten
uns lebendig entgegen. Sämmtliche Alterthümer Athens zeugen
davon, wie mit wahnſinnigem Fanatismus alle Bildwerke,
auch die harmloſeſten Grabreliefs, wie Teufelswerk betrachtet
und verſtümmelt worden ſind, als wenn die Vernichtung ihrer
Schönheit ein Gottesdienſt wäre. Man ſieht, mit welcher
Mühe die Felsaltäre zerſchlagen worden ſind, und erkennt
daran, daß dieſe älteſten Stätten eines bildloſen Cultus bis
zuletzt mit beſonderem Eifer gepflegt worden ſind. Und den¬
noch konnte das Gefühl einer gewiſſen Anhänglichkeit und
Ehrerbietung nicht ganz zurückgedrängt werden; dennoch zog
ſich der neue Gottesdienſt an die Stätten des alten. Jede
Kapelle iſt ein Fingerzeig für die Statiſtik des alten Cultus;
Feſte und Gebräuche aller Art ſind in die neue Zeit herüber¬
genommen und ſelbſt von Bildwerken ſuchte man nun die
Bruchſtücke zuſammen, um ſie, wie es noch heute geſchieht,
an Kapellen und Wohnungen als Schmuck einzufügen und ſo
dem völligen Untergange zu entziehen.

Und nun das jetzige Volk. Nimmt es nicht auch ein
allgemeines Intereſſe in Anſpruch? Der neue Eintritt des
Griechenvolks in die Geſchichte und das Wiederaufleben ſeiner
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[37/0053] Das alte und neue Griechenland. die mit ihrer Cultur ſo groß thut! Die griechiſchen Werk¬ meiſter würden noch heute auf jeder Weltausſtellung ihre vollen Preiſe gewinnen, und wenn das glänzende Neapel von dem Schickſale Pompeji's betroffen würde, ſo wäre die Ver¬ ſchüttung des Muſeums der größte Verluſt, und man hätte nichts Wichtigeres zu thun, als die geretteten Meiſterwerke alter Kunſt und Induſtrie zum zweiten Male aus der Aſche zu holen. Wie man alſo nur auf klaſſiſchem Boden die alte Welt in ihrer vollen Realität kennen zu lernen und zu würdigen im Stande iſt, und zwar nach ihren örtlichen Verſchiedenheiten (denn wie verſchieden zeigt ſich auch in den Stadtruinen und Kunſtreſten das Griechenthum Attica's, Siciliens und Cam¬ paniens!) — ſo auch den Gegenſatz der alten und neuen Welt. Die weltgeſchichtlichen Momente des erbitterten Kampfes treten uns lebendig entgegen. Sämmtliche Alterthümer Athens zeugen davon, wie mit wahnſinnigem Fanatismus alle Bildwerke, auch die harmloſeſten Grabreliefs, wie Teufelswerk betrachtet und verſtümmelt worden ſind, als wenn die Vernichtung ihrer Schönheit ein Gottesdienſt wäre. Man ſieht, mit welcher Mühe die Felsaltäre zerſchlagen worden ſind, und erkennt daran, daß dieſe älteſten Stätten eines bildloſen Cultus bis zuletzt mit beſonderem Eifer gepflegt worden ſind. Und den¬ noch konnte das Gefühl einer gewiſſen Anhänglichkeit und Ehrerbietung nicht ganz zurückgedrängt werden; dennoch zog ſich der neue Gottesdienſt an die Stätten des alten. Jede Kapelle iſt ein Fingerzeig für die Statiſtik des alten Cultus; Feſte und Gebräuche aller Art ſind in die neue Zeit herüber¬ genommen und ſelbſt von Bildwerken ſuchte man nun die Bruchſtücke zuſammen, um ſie, wie es noch heute geſchieht, an Kapellen und Wohnungen als Schmuck einzufügen und ſo dem völligen Untergange zu entziehen. Und nun das jetzige Volk. Nimmt es nicht auch ein allgemeines Intereſſe in Anſpruch? Der neue Eintritt des Griechenvolks in die Geſchichte und das Wiederaufleben ſeiner alten Sprache — das ſind Thatſachen, wie ſie ſelten in der

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/53>, abgerufen am 27.11.2024.