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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das neue und alte Griechenland.
Geschichte vorkommen, Thatsachen, die erst allmählich ganz
beurtheilt werden können. Wer nach längerer Zeit Griechenland
wiedersieht, der erstaunt, mit welchem Geschicke auch die unteren
Schichten des Volks ein reineres Griechisch sich aneignen, und
dieses Idiom breitet sich auch in den nicht griechischen Theilen
der Bevölkerung mächtig aus; Albaneser und Wlachen gehen mehr
und mehr in die griechische Nationalität auf. Das zeugt für
ihre Lebenskraft. Aber jede staatliche Entwickelung bedarf eines
zureichenden Materials und eines Raumes von angemessener
Größe und Begränzung. Hier ist nur der willkürlich abgetrennte
Bruchtheil einer Nation, dem alle Erfordernisse zu einem selbst¬
ständigen Gedeihen fehlen. Dem kleinen Volke mangelt es
nicht an Rührigkeit und hohen Zielen. Man bereitet sich vor,
schon jetzt einen geistigen Mittelpunkt für die Küstenstämme
griechischer Zunge zu bilden; die Universität Athen hat schon
eine centrale Bedeutung und ihre Zöglinge sind die Träger
der nationalen Hoffnungen in Thessalien, in Macedonien, auf
den ionischen Inseln, in Kreta und Klein-Asien. Aber die
Zustände einer völligen Unzufriedenheit mit der Gegenwart
und eines aussichtslosen Harrens auf bessere Tage sind natür¬
lich wenig geeignet, die ruhige Entwickelung des Staats,
welcher der Kern des Zukunftstaats sein soll, zu fördern. In
fruchtloser Gährung zehren sich die Kräfte auf, während die
einzig sichern Grundlagen des nationalen Wohlstandes verab¬
säumt bleiben. Auf allen Gebieten höherer Intelligenz wer¬
den Fortschritte gemacht, welche der Bildungsfähigkeit des
Volks das glänzendste Zeugniß geben, aber die Bildung be¬
steht vorzugsweise in Aneignung ausländischer Cultur, die aus
den verschiedenen Ländern Europa's zuströmt und zu einer
nationalen Volksbildung sich nicht leicht verschmelzen wird.
Auch der Zustand der Landessprache ist ein künstlicher und
unsicherer. Man hat es aufgegeben, die Vulgärsprache als
Sprachidiom festzuhalten, man sucht der alten Sprache näher
und näher zu kommen. Aber je mehr dies geschieht, um so
mehr fallen die noch geduldeten Ueberreste einer verdorbenen
Sprache auf. Wo ist da die Gränze? Einstweilen sucht sich jeder

Das neue und alte Griechenland.
Geſchichte vorkommen, Thatſachen, die erſt allmählich ganz
beurtheilt werden können. Wer nach längerer Zeit Griechenland
wiederſieht, der erſtaunt, mit welchem Geſchicke auch die unteren
Schichten des Volks ein reineres Griechiſch ſich aneignen, und
dieſes Idiom breitet ſich auch in den nicht griechiſchen Theilen
der Bevölkerung mächtig aus; Albaneſer und Wlachen gehen mehr
und mehr in die griechiſche Nationalität auf. Das zeugt für
ihre Lebenskraft. Aber jede ſtaatliche Entwickelung bedarf eines
zureichenden Materials und eines Raumes von angemeſſener
Größe und Begränzung. Hier iſt nur der willkürlich abgetrennte
Bruchtheil einer Nation, dem alle Erforderniſſe zu einem ſelbſt¬
ſtändigen Gedeihen fehlen. Dem kleinen Volke mangelt es
nicht an Rührigkeit und hohen Zielen. Man bereitet ſich vor,
ſchon jetzt einen geiſtigen Mittelpunkt für die Küſtenſtämme
griechiſcher Zunge zu bilden; die Univerſität Athen hat ſchon
eine centrale Bedeutung und ihre Zöglinge ſind die Träger
der nationalen Hoffnungen in Theſſalien, in Macedonien, auf
den ioniſchen Inſeln, in Kreta und Klein-Aſien. Aber die
Zuſtände einer völligen Unzufriedenheit mit der Gegenwart
und eines ausſichtsloſen Harrens auf beſſere Tage ſind natür¬
lich wenig geeignet, die ruhige Entwickelung des Staats,
welcher der Kern des Zukunftſtaats ſein ſoll, zu fördern. In
fruchtloſer Gährung zehren ſich die Kräfte auf, während die
einzig ſichern Grundlagen des nationalen Wohlſtandes verab¬
ſäumt bleiben. Auf allen Gebieten höherer Intelligenz wer¬
den Fortſchritte gemacht, welche der Bildungsfähigkeit des
Volks das glänzendſte Zeugniß geben, aber die Bildung be¬
ſteht vorzugsweiſe in Aneignung ausländiſcher Cultur, die aus
den verſchiedenen Ländern Europa's zuſtrömt und zu einer
nationalen Volksbildung ſich nicht leicht verſchmelzen wird.
Auch der Zuſtand der Landesſprache iſt ein künſtlicher und
unſicherer. Man hat es aufgegeben, die Vulgärſprache als
Sprachidiom feſtzuhalten, man ſucht der alten Sprache näher
und näher zu kommen. Aber je mehr dies geſchieht, um ſo
mehr fallen die noch geduldeten Ueberreſte einer verdorbenen
Sprache auf. Wo iſt da die Gränze? Einſtweilen ſucht ſich jeder

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[38/0054] Das neue und alte Griechenland. Geſchichte vorkommen, Thatſachen, die erſt allmählich ganz beurtheilt werden können. Wer nach längerer Zeit Griechenland wiederſieht, der erſtaunt, mit welchem Geſchicke auch die unteren Schichten des Volks ein reineres Griechiſch ſich aneignen, und dieſes Idiom breitet ſich auch in den nicht griechiſchen Theilen der Bevölkerung mächtig aus; Albaneſer und Wlachen gehen mehr und mehr in die griechiſche Nationalität auf. Das zeugt für ihre Lebenskraft. Aber jede ſtaatliche Entwickelung bedarf eines zureichenden Materials und eines Raumes von angemeſſener Größe und Begränzung. Hier iſt nur der willkürlich abgetrennte Bruchtheil einer Nation, dem alle Erforderniſſe zu einem ſelbſt¬ ſtändigen Gedeihen fehlen. Dem kleinen Volke mangelt es nicht an Rührigkeit und hohen Zielen. Man bereitet ſich vor, ſchon jetzt einen geiſtigen Mittelpunkt für die Küſtenſtämme griechiſcher Zunge zu bilden; die Univerſität Athen hat ſchon eine centrale Bedeutung und ihre Zöglinge ſind die Träger der nationalen Hoffnungen in Theſſalien, in Macedonien, auf den ioniſchen Inſeln, in Kreta und Klein-Aſien. Aber die Zuſtände einer völligen Unzufriedenheit mit der Gegenwart und eines ausſichtsloſen Harrens auf beſſere Tage ſind natür¬ lich wenig geeignet, die ruhige Entwickelung des Staats, welcher der Kern des Zukunftſtaats ſein ſoll, zu fördern. In fruchtloſer Gährung zehren ſich die Kräfte auf, während die einzig ſichern Grundlagen des nationalen Wohlſtandes verab¬ ſäumt bleiben. Auf allen Gebieten höherer Intelligenz wer¬ den Fortſchritte gemacht, welche der Bildungsfähigkeit des Volks das glänzendſte Zeugniß geben, aber die Bildung be¬ ſteht vorzugsweiſe in Aneignung ausländiſcher Cultur, die aus den verſchiedenen Ländern Europa's zuſtrömt und zu einer nationalen Volksbildung ſich nicht leicht verſchmelzen wird. Auch der Zuſtand der Landesſprache iſt ein künſtlicher und unſicherer. Man hat es aufgegeben, die Vulgärſprache als Sprachidiom feſtzuhalten, man ſucht der alten Sprache näher und näher zu kommen. Aber je mehr dies geſchieht, um ſo mehr fallen die noch geduldeten Ueberreſte einer verdorbenen Sprache auf. Wo iſt da die Gränze? Einſtweilen ſucht ſich jeder

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/54>, abgerufen am 23.11.2024.