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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Rom und die Deutschen.
auf den Angelsachsen. Sie haben dasselbe zuerst in vollem
Maße anerkannt, sie haben die stammverwandten Völker zu
gleicher Verehrung angeleitet, vornehmlich die Franken. So
kam es, daß die fränkischen Fürsten für das römische Bisthum
in Italien eintraten; von allen Nachbarn unabhängig, sollte
Rom der freie Sitz kirchlicher Oberleitung sein; aus der
Verbindung mit Byzanz gelöst, wurde es durch Carl von
Neuem ein Mittelpunkt der Welt, das Haupt des Abendlan¬
des. Es war nicht mehr eine matte Fortsetzung des alten
Römerstaats, sondern eine Wiedergeburt desselben durch deut¬
schen Geist, eine neue Schöpfung, in welcher sich die großen
Traditionen des Alterthums mit dem Christenglauben und
der ihm dienstbaren Volkskraft der Deutschen verschmelzen
sollten, eine großartige, hoffnungsreiche Schöpfung, welche
die kriegsmüde Menschheit beruhigen, versöhnen und in fried¬
licher Gemeinschaft ihren höchsten Bildungszielen entgegen¬
führen sollte.

Als diese Ideen durch die Ottonen erneuert wurden, war
ihre Durchführung nicht mehr so leicht wie unter Carl dem
Großen. Der Widerstand jenseit der Alpen war gewachsen.
Aber die wachsenden Schwierigkeiten erhöhten nur den Eifer;
sie steigerten ihn zu einer Art von Leidenschaft, mit der man
die Stellung im fernen Rom für den wichtigsten Gesichtspunkt
deutscher Politik ansah. Welche andere Nation würde solche
Opfer gebracht haben für eine idealistische Politik, deren Ziele
immer unklarer, deren Gesichtspunkte immer phantastischer
wurden? Unter dem dritten der Ottonen wurde die römische
Politik zu einem krankhaften Cultus, der mit Rom getrieben
wurde; der junge Sachsenfürst hörte auf ein Deutscher zu
sein; ein ewiges Heimweh zog ihn nach dem Tiberstrande,
und die universale Richtung, welche von jeher mit der römi¬
schen Politik verbunden war, wurde so weit getrieben, daß
nun auch griechische Sprache und Sitte am römisch-deutschen
Hofe Eingang fand, daß Byzanz, von dessen Einflüssen man
das Abendland glücklich befreit hatte, wieder zu einem Vor¬
bilde gemacht wurde; es war ein Zurücksinken zu jener unge¬

Rom und die Deutſchen.
auf den Angelſachſen. Sie haben daſſelbe zuerſt in vollem
Maße anerkannt, ſie haben die ſtammverwandten Völker zu
gleicher Verehrung angeleitet, vornehmlich die Franken. So
kam es, daß die fränkiſchen Fürſten für das römiſche Bisthum
in Italien eintraten; von allen Nachbarn unabhängig, ſollte
Rom der freie Sitz kirchlicher Oberleitung ſein; aus der
Verbindung mit Byzanz gelöſt, wurde es durch Carl von
Neuem ein Mittelpunkt der Welt, das Haupt des Abendlan¬
des. Es war nicht mehr eine matte Fortſetzung des alten
Römerſtaats, ſondern eine Wiedergeburt deſſelben durch deut¬
ſchen Geiſt, eine neue Schöpfung, in welcher ſich die großen
Traditionen des Alterthums mit dem Chriſtenglauben und
der ihm dienſtbaren Volkskraft der Deutſchen verſchmelzen
ſollten, eine großartige, hoffnungsreiche Schöpfung, welche
die kriegsmüde Menſchheit beruhigen, verſöhnen und in fried¬
licher Gemeinſchaft ihren höchſten Bildungszielen entgegen¬
führen ſollte.

Als dieſe Ideen durch die Ottonen erneuert wurden, war
ihre Durchführung nicht mehr ſo leicht wie unter Carl dem
Großen. Der Widerſtand jenſeit der Alpen war gewachſen.
Aber die wachſenden Schwierigkeiten erhöhten nur den Eifer;
ſie ſteigerten ihn zu einer Art von Leidenſchaft, mit der man
die Stellung im fernen Rom für den wichtigſten Geſichtspunkt
deutſcher Politik anſah. Welche andere Nation würde ſolche
Opfer gebracht haben für eine idealiſtiſche Politik, deren Ziele
immer unklarer, deren Geſichtspunkte immer phantaſtiſcher
wurden? Unter dem dritten der Ottonen wurde die römiſche
Politik zu einem krankhaften Cultus, der mit Rom getrieben
wurde; der junge Sachſenfürſt hörte auf ein Deutſcher zu
ſein; ein ewiges Heimweh zog ihn nach dem Tiberſtrande,
und die univerſale Richtung, welche von jeher mit der römi¬
ſchen Politik verbunden war, wurde ſo weit getrieben, daß
nun auch griechiſche Sprache und Sitte am römiſch-deutſchen
Hofe Eingang fand, daß Byzanz, von deſſen Einflüſſen man
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[44/0060] Rom und die Deutſchen. auf den Angelſachſen. Sie haben daſſelbe zuerſt in vollem Maße anerkannt, ſie haben die ſtammverwandten Völker zu gleicher Verehrung angeleitet, vornehmlich die Franken. So kam es, daß die fränkiſchen Fürſten für das römiſche Bisthum in Italien eintraten; von allen Nachbarn unabhängig, ſollte Rom der freie Sitz kirchlicher Oberleitung ſein; aus der Verbindung mit Byzanz gelöſt, wurde es durch Carl von Neuem ein Mittelpunkt der Welt, das Haupt des Abendlan¬ des. Es war nicht mehr eine matte Fortſetzung des alten Römerſtaats, ſondern eine Wiedergeburt deſſelben durch deut¬ ſchen Geiſt, eine neue Schöpfung, in welcher ſich die großen Traditionen des Alterthums mit dem Chriſtenglauben und der ihm dienſtbaren Volkskraft der Deutſchen verſchmelzen ſollten, eine großartige, hoffnungsreiche Schöpfung, welche die kriegsmüde Menſchheit beruhigen, verſöhnen und in fried¬ licher Gemeinſchaft ihren höchſten Bildungszielen entgegen¬ führen ſollte. Als dieſe Ideen durch die Ottonen erneuert wurden, war ihre Durchführung nicht mehr ſo leicht wie unter Carl dem Großen. Der Widerſtand jenſeit der Alpen war gewachſen. Aber die wachſenden Schwierigkeiten erhöhten nur den Eifer; ſie ſteigerten ihn zu einer Art von Leidenſchaft, mit der man die Stellung im fernen Rom für den wichtigſten Geſichtspunkt deutſcher Politik anſah. Welche andere Nation würde ſolche Opfer gebracht haben für eine idealiſtiſche Politik, deren Ziele immer unklarer, deren Geſichtspunkte immer phantaſtiſcher wurden? Unter dem dritten der Ottonen wurde die römiſche Politik zu einem krankhaften Cultus, der mit Rom getrieben wurde; der junge Sachſenfürſt hörte auf ein Deutſcher zu ſein; ein ewiges Heimweh zog ihn nach dem Tiberſtrande, und die univerſale Richtung, welche von jeher mit der römi¬ ſchen Politik verbunden war, wurde ſo weit getrieben, daß nun auch griechiſche Sprache und Sitte am römiſch-deutſchen Hofe Eingang fand, daß Byzanz, von deſſen Einflüſſen man das Abendland glücklich befreit hatte, wieder zu einem Vor¬ bilde gemacht wurde; es war ein Zurückſinken zu jener unge¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/60>, abgerufen am 23.11.2024.