Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
VI.
Der Weltgang der griechischen Cultur.

Als wir im vorigen Jahre zur akademischen Feier hier
versammelt waren und unsere Gedanken sich mit dem beschäf¬
tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachstudien als die
gemeinsame Aufgabe unserer wissenschaftlichen Arbeit angesehen
werden könnte, fanden wir einen solchen Mittelpunkt in der
historischen Forschung, welche darauf ausgeht, in Natur und
Menschenwelt die gegebenen Thatsachen zu begreifen. Aber
wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieser Forschung
auseinander! Der Naturforscher fühlt sich am Ziele, wenn er
das Gesetz erkannt hat, nach welchem sich unabänderlich die¬
selben Erscheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen
müssen. Aber wann ist der Geschichtsforscher am Ziele, wann
kann er auch auf einem noch so eng begränzten Gebiete die
Untersuchung für geschlossen ansehen! Denn wenn durch
Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die
Thatsachen festgestellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet sind,
was wissen wir dann von dem Volke, dessen Geschichte uns
beschäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menschen
wissen, dessen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen
lassen. Unsere Theilnahme wird angeregt und der Wunsch
geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬
schaft aber beginnt erst dann, wenn sein inneres Leben uns
entgegentritt, wenn wir seinen Bildungsgang, sein sittliches
Streben, seine wissenschaftlichen Ziele kennen lernen. Haben

VI.
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.

Als wir im vorigen Jahre zur akademiſchen Feier hier
verſammelt waren und unſere Gedanken ſich mit dem beſchäf¬
tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachſtudien als die
gemeinſame Aufgabe unſerer wiſſenſchaftlichen Arbeit angeſehen
werden könnte, fanden wir einen ſolchen Mittelpunkt in der
hiſtoriſchen Forſchung, welche darauf ausgeht, in Natur und
Menſchenwelt die gegebenen Thatſachen zu begreifen. Aber
wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieſer Forſchung
auseinander! Der Naturforſcher fühlt ſich am Ziele, wenn er
das Geſetz erkannt hat, nach welchem ſich unabänderlich die¬
ſelben Erſcheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen
müſſen. Aber wann iſt der Geſchichtsforſcher am Ziele, wann
kann er auch auf einem noch ſo eng begränzten Gebiete die
Unterſuchung für geſchloſſen anſehen! Denn wenn durch
Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die
Thatſachen feſtgeſtellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet ſind,
was wiſſen wir dann von dem Volke, deſſen Geſchichte uns
beſchäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menſchen
wiſſen, deſſen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen
laſſen. Unſere Theilnahme wird angeregt und der Wunſch
geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬
ſchaft aber beginnt erſt dann, wenn ſein inneres Leben uns
entgegentritt, wenn wir ſeinen Bildungsgang, ſein ſittliches
Streben, ſeine wiſſenſchaftlichen Ziele kennen lernen. Haben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0075"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#aq">VI.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Der Weltgang der griechi&#x017F;chen Cultur.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Als wir im vorigen Jahre zur akademi&#x017F;chen Feier hier<lb/>
ver&#x017F;ammelt waren und un&#x017F;ere Gedanken &#x017F;ich mit dem be&#x017F;chäf¬<lb/>
tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fach&#x017F;tudien als die<lb/>
gemein&#x017F;ame Aufgabe un&#x017F;erer wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Arbeit ange&#x017F;ehen<lb/>
werden könnte, fanden wir einen &#x017F;olchen Mittelpunkt in der<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen For&#x017F;chung, welche darauf ausgeht, in Natur und<lb/>
Men&#x017F;chenwelt die gegebenen That&#x017F;achen zu begreifen. Aber<lb/>
wie weit gehen doch die beiden Richtungen die&#x017F;er For&#x017F;chung<lb/>
auseinander! Der Naturfor&#x017F;cher fühlt &#x017F;ich am Ziele, wenn er<lb/>
das Ge&#x017F;etz erkannt hat, nach welchem &#x017F;ich unabänderlich die¬<lb/>
&#x017F;elben Er&#x017F;cheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen<lb/>&#x017F;&#x017F;en. Aber wann i&#x017F;t der Ge&#x017F;chichtsfor&#x017F;cher am Ziele, wann<lb/>
kann er auch auf einem noch &#x017F;o eng begränzten Gebiete die<lb/>
Unter&#x017F;uchung für ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en an&#x017F;ehen! Denn wenn durch<lb/>
Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die<lb/>
That&#x017F;achen fe&#x017F;tge&#x017F;tellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet &#x017F;ind,<lb/>
was wi&#x017F;&#x017F;en wir dann von dem Volke, de&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;chichte uns<lb/>
be&#x017F;chäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Men&#x017F;chen<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en, de&#x017F;&#x017F;en äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Un&#x017F;ere Theilnahme wird angeregt und der Wun&#x017F;ch<lb/>
geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬<lb/>
&#x017F;chaft aber beginnt er&#x017F;t dann, wenn &#x017F;ein inneres Leben uns<lb/>
entgegentritt, wenn wir &#x017F;einen Bildungsgang, &#x017F;ein &#x017F;ittliches<lb/>
Streben, &#x017F;eine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Ziele kennen lernen. Haben<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0075] VI. Der Weltgang der griechiſchen Cultur. Als wir im vorigen Jahre zur akademiſchen Feier hier verſammelt waren und unſere Gedanken ſich mit dem beſchäf¬ tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachſtudien als die gemeinſame Aufgabe unſerer wiſſenſchaftlichen Arbeit angeſehen werden könnte, fanden wir einen ſolchen Mittelpunkt in der hiſtoriſchen Forſchung, welche darauf ausgeht, in Natur und Menſchenwelt die gegebenen Thatſachen zu begreifen. Aber wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieſer Forſchung auseinander! Der Naturforſcher fühlt ſich am Ziele, wenn er das Geſetz erkannt hat, nach welchem ſich unabänderlich die¬ ſelben Erſcheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen müſſen. Aber wann iſt der Geſchichtsforſcher am Ziele, wann kann er auch auf einem noch ſo eng begränzten Gebiete die Unterſuchung für geſchloſſen anſehen! Denn wenn durch Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die Thatſachen feſtgeſtellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet ſind, was wiſſen wir dann von dem Volke, deſſen Geſchichte uns beſchäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menſchen wiſſen, deſſen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen laſſen. Unſere Theilnahme wird angeregt und der Wunſch geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬ ſchaft aber beginnt erſt dann, wenn ſein inneres Leben uns entgegentritt, wenn wir ſeinen Bildungsgang, ſein ſittliches Streben, ſeine wiſſenſchaftlichen Ziele kennen lernen. Haben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/75
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/75>, abgerufen am 27.11.2024.