Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der Weltgang der griechischen Cultur. wir diesen Genuß des inneren Verkehrs gekostet, so erhaltennun auch alle äußeren Thatsachen, welche bis dahin nur die Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns. Ebenso ist es mit der Völkergeschichte. Die Völker sind Sie ist in wesentlichen Punkten von der äußeren Geschichte Die Culturgeschichte hat aber noch ganz andere Gebiete; Der Weltgang der griechiſchen Cultur. wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhaltennun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns. Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0076" n="60"/><fw place="top" type="header">Der Weltgang der griechiſchen Cultur.<lb/></fw>wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhalten<lb/> nun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die<lb/> Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.</p><lb/> <p>Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind<lb/> ja auch in gewiſſem Sinne Individuen; es ſind geſchicht¬<lb/> liche Perſönlichkeiten, welche unter dem Einfluſſe unendlich<lb/> vieler Beſtimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬<lb/> liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch<lb/> unſer höchſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt, iſt das Verſtänd¬<lb/> niß ihres Charakters. Die Wiſſenſchaft ſucht dieſes Intereſſe<lb/> zu befriedigen, und wie der Naturforſcher von dem Aeußeren<lb/> der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von<lb/> dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬<lb/> proceß übergeht, ſo dringt auch der Hiſtoriker immer mehr<lb/> von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der<lb/> Ereigniſſe den einheitlichen Zuſammenhang, in dem Geſchehen<lb/> das Werden, in den Erſcheinungen die wirkenden Kräfte zu<lb/> erkennen. Aber bei der geſchichtlichen Entwickelung ſind keine<lb/> Geſetze mathematiſcher oder phyſikaliſcher Art nachzuweiſen;<lb/> hier laſſen ſich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden,<lb/> welche den Schlüſſel des Verſtändniſſes bilden; wir ſtehen auf<lb/> dem Gebiete ſittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz,<lb/> aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen hiſtoriſchen<lb/> Forſchung, welche wir die culturgeſchichtliche nennen können.</p><lb/> <p>Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte<lb/> unterſchieden. Sie iſt arm an Quellen; denn nur die äußeren<lb/> Thatſachen, welche Aufſehen erregen, werden von den Zeitge¬<lb/> noſſen bezeugt und dem Gedächtniſſe der Nachkommen aufbe¬<lb/> wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im<lb/> Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht ſich die innere Ent¬<lb/> wickelung der Völker; die wichtigſten Einflüſſe ſind vollendet,<lb/> wenn das Selbſtbewußtſein erwacht, und was an Denkmälern<lb/> alter Cultur erhalten iſt, kann wohl von den Höhenpunkten<lb/> gewiſſer Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬<lb/> legten Wege Zeugniß geben.</p><lb/> <p>Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete;<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [60/0076]
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhalten
nun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die
Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.
Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind
ja auch in gewiſſem Sinne Individuen; es ſind geſchicht¬
liche Perſönlichkeiten, welche unter dem Einfluſſe unendlich
vieler Beſtimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬
liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch
unſer höchſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt, iſt das Verſtänd¬
niß ihres Charakters. Die Wiſſenſchaft ſucht dieſes Intereſſe
zu befriedigen, und wie der Naturforſcher von dem Aeußeren
der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von
dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬
proceß übergeht, ſo dringt auch der Hiſtoriker immer mehr
von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der
Ereigniſſe den einheitlichen Zuſammenhang, in dem Geſchehen
das Werden, in den Erſcheinungen die wirkenden Kräfte zu
erkennen. Aber bei der geſchichtlichen Entwickelung ſind keine
Geſetze mathematiſcher oder phyſikaliſcher Art nachzuweiſen;
hier laſſen ſich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden,
welche den Schlüſſel des Verſtändniſſes bilden; wir ſtehen auf
dem Gebiete ſittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz,
aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen hiſtoriſchen
Forſchung, welche wir die culturgeſchichtliche nennen können.
Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte
unterſchieden. Sie iſt arm an Quellen; denn nur die äußeren
Thatſachen, welche Aufſehen erregen, werden von den Zeitge¬
noſſen bezeugt und dem Gedächtniſſe der Nachkommen aufbe¬
wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im
Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht ſich die innere Ent¬
wickelung der Völker; die wichtigſten Einflüſſe ſind vollendet,
wenn das Selbſtbewußtſein erwacht, und was an Denkmälern
alter Cultur erhalten iſt, kann wohl von den Höhenpunkten
gewiſſer Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬
legten Wege Zeugniß geben.
Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete;
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