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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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die Wahrnehmungen, die man über den Einfluss von Nachbar-
consonanten innerhalb derselben Silben auf ihnen nahe stehende
Vocale oder über Einwirkungen des Vocalismus von Nachbar-
silben oder über den des Accents der Einzelsprachen auf die
Vocalfärbung versucht hatte, nur zum geringsten Theile be-
friedigend. Man kann das recht deutlich erkennen an den ent-
sprechenden Lehren Corssen's "Aussprache,Vocalismus u.s.w."
21 ff. über den lateinischen Vocalismus und Gust. Meyer's ein-
stigem Versuch, das griechische e aus der griechischen Be-
tonung zu erklären (Zeitschr. XXIV, 226 ff.). Das höhere Alter,
welches sich mir unter mehrfacher Zustimmung für das e neben
dem a(o) ergab, warf wenigstens insofern für die Vertheilung
der Vocale in den Einzelsprachen ein Resultat ab, als man
erkannte, dass das e und vielfach auch das o der Stammsilben
nicht aus den Gewohnheiten und Neigungen der Einzelsprachen,
sondern aus Zeiten zu erklären sei, die weit jenseit dieser
Perioden liegen.

Es kann also zugegeben werden, dass eine Hypothese er-
wünscht sein würde, die uns zu einer befriedigenderen Ein-
sicht in den Grund der vocalischen Buntheit führen würde.
Aber ist denn diese auf dem neuen Wege wirklich erreicht?
Ich kann dies nur in Bezug auf einzelne Punkte zugeben. Im
grossen und ganzen ist vielmehr nichts andres geschehen, als
dass man an die Stelle der alten eine neue Hypothese gestellt
hat. Man hat in diesem Falle wie in vielen andern das schwer
begreifliche als von Anfang an gegeben hingestellt und damit
das weitere Fragen vielfach abgeschnitten. Dabei aber hat
man, da das Fragen ja bei dem nach Wissen strebenden nie
aufhört, ganz übersehen, dass auch bei der neuen Hypothese
gar vieles zu fragen übrig bleibt. Brugmann hat ganz Recht,
wenn er Morph. Unters. III 93 sagt: fiat experimentum! Und
wie oft bekennt Saussure in seinem feinsinnigen Buche, dass
die Entscheidung im einzelnen Falle ungemein schwierig sei!
Freilich sticht diese bescheidene Sprache gar sehr gegen die

die Wahrnehmungen, die man über den Einfluss von Nachbar-
consonanten innerhalb derselben Silben auf ihnen nahe stehende
Vocale oder über Einwirkungen des Vocalismus von Nachbar-
silben oder über den des Accents der Einzelsprachen auf die
Vocalfärbung versucht hatte, nur zum geringsten Theile be-
friedigend. Man kann das recht deutlich erkennen an den ent-
sprechenden Lehren Corssen's „Aussprache,Vocalismus u.s.w.“
21 ff. über den lateinischen Vocalismus und Gust. Meyer's ein-
stigem Versuch, das griechische ε aus der griechischen Be-
tonung zu erklären (Zeitschr. XXIV, 226 ff.). Das höhere Alter,
welches sich mir unter mehrfacher Zustimmung für das e neben
dem a(o) ergab, warf wenigstens insofern für die Vertheilung
der Vocale in den Einzelsprachen ein Resultat ab, als man
erkannte, dass das e und vielfach auch das o der Stammsilben
nicht aus den Gewohnheiten und Neigungen der Einzelsprachen,
sondern aus Zeiten zu erklären sei, die weit jenseit dieser
Perioden liegen.

Es kann also zugegeben werden, dass eine Hypothese er-
wünscht sein würde, die uns zu einer befriedigenderen Ein-
sicht in den Grund der vocalischen Buntheit führen würde.
Aber ist denn diese auf dem neuen Wege wirklich erreicht?
Ich kann dies nur in Bezug auf einzelne Punkte zugeben. Im
grossen und ganzen ist vielmehr nichts andres geschehen, als
dass man an die Stelle der alten eine neue Hypothese gestellt
hat. Man hat in diesem Falle wie in vielen andern das schwer
begreifliche als von Anfang an gegeben hingestellt und damit
das weitere Fragen vielfach abgeschnitten. Dabei aber hat
man, da das Fragen ja bei dem nach Wissen strebenden nie
aufhört, ganz übersehen, dass auch bei der neuen Hypothese
gar vieles zu fragen übrig bleibt. Brugmann hat ganz Recht,
wenn er Morph. Unters. III 93 sagt: fiat experimentum! Und
wie oft bekennt Saussure in seinem feinsinnigen Buche, dass
die Entscheidung im einzelnen Falle ungemein schwierig sei!
Freilich sticht diese bescheidene Sprache gar sehr gegen die

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[96/0104] die Wahrnehmungen, die man über den Einfluss von Nachbar- consonanten innerhalb derselben Silben auf ihnen nahe stehende Vocale oder über Einwirkungen des Vocalismus von Nachbar- silben oder über den des Accents der Einzelsprachen auf die Vocalfärbung versucht hatte, nur zum geringsten Theile be- friedigend. Man kann das recht deutlich erkennen an den ent- sprechenden Lehren Corssen's „Aussprache,Vocalismus u.s.w.“ 21 ff. über den lateinischen Vocalismus und Gust. Meyer's ein- stigem Versuch, das griechische ε aus der griechischen Be- tonung zu erklären (Zeitschr. XXIV, 226 ff.). Das höhere Alter, welches sich mir unter mehrfacher Zustimmung für das e neben dem a(o) ergab, warf wenigstens insofern für die Vertheilung der Vocale in den Einzelsprachen ein Resultat ab, als man erkannte, dass das e und vielfach auch das o der Stammsilben nicht aus den Gewohnheiten und Neigungen der Einzelsprachen, sondern aus Zeiten zu erklären sei, die weit jenseit dieser Perioden liegen. Es kann also zugegeben werden, dass eine Hypothese er- wünscht sein würde, die uns zu einer befriedigenderen Ein- sicht in den Grund der vocalischen Buntheit führen würde. Aber ist denn diese auf dem neuen Wege wirklich erreicht? Ich kann dies nur in Bezug auf einzelne Punkte zugeben. Im grossen und ganzen ist vielmehr nichts andres geschehen, als dass man an die Stelle der alten eine neue Hypothese gestellt hat. Man hat in diesem Falle wie in vielen andern das schwer begreifliche als von Anfang an gegeben hingestellt und damit das weitere Fragen vielfach abgeschnitten. Dabei aber hat man, da das Fragen ja bei dem nach Wissen strebenden nie aufhört, ganz übersehen, dass auch bei der neuen Hypothese gar vieles zu fragen übrig bleibt. Brugmann hat ganz Recht, wenn er Morph. Unters. III 93 sagt: fiat experimentum! Und wie oft bekennt Saussure in seinem feinsinnigen Buche, dass die Entscheidung im einzelnen Falle ungemein schwierig sei! Freilich sticht diese bescheidene Sprache gar sehr gegen die

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/104>, abgerufen am 21.11.2024.