Sicherheit ab, mit der anderswo die ältere Hypothese als völlig überwunden und die neue Lehre als über jeden Zweifel erhaben dargestellt wird. Solche Fragen und Zweifel wollen wir nun hier vorführen.
Zunächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bun- ten Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und Iraniern der ihre Sprachen charakterisirende eintönige Voca- lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen: "Kein Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich e und o durchweg in das eine a wandelte"? Auf diese Frage ist die Antwort der neueren Sprachforscher altum silentium, wie es denn überhaupt den orientalischen Sprachen in der Geschichte der Wissenschaft eigenthümlich ergangen ist. Einst das Orakel der aufkeimenden Forschung, dem man blindlings folgte, stehen sie jetzt bei Seite. Man kann fast sagen, statt des geflügel- ten Worts "ex oriente lux" muss es jetzt heissen "in oriente tenebrae". Wo kommt es denn sonst vor, dass eine Sprache, die doch ihrem Charakter nach eine reich und fein unterschei- dende ist, einen wichtigen Theil des Lautbestandes nicht etwa nur hier und da verändert, sondern förmlich verwüstet ? Fin- den sich irgendwo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so bringe man sie vor. Man denkt unwillkürlich an den neu- griechischen Itacismus. Sollen wir diesem einen arischen Alphacismus entgegen stellen? Aber jener ist ein in seiner stufenweisen Entstehung durch Zeugnisse von Jahrhunderten wohl bezeugter Process, der Alphacismus reine Hypothese. Oder sollen wir für die östliche Monotonie etwa nur die Schrift in Anspruch nehmen, vielleicht auch statt des vollen A - Lautes einen unbestimmten trüben Vocal voraussetzen, etwa wie unser sogenanntes stummes e, das Residuum volltönender Vocale? *) Diesen und ähnlichen Auffassungen steht doch die Thatsache gegenüber, dass dergleichen Laute von geringer Kraft und
*) Aehnlich Henry "etude sur l'analogie" p. 57.
Curtius, Zur Kritik.
7
Sicherheit ab, mit der anderswo die ältere Hypothese als völlig überwunden und die neue Lehre als über jeden Zweifel erhaben dargestellt wird. Solche Fragen und Zweifel wollen wir nun hier vorführen.
Zunächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bun- ten Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und Iraniern der ihre Sprachen charakterisirende eintönige Voca- lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen: „Kein Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich e und o durchweg in das eine a wandelte“? Auf diese Frage ist die Antwort der neueren Sprachforscher altum silentium, wie es denn überhaupt den orientalischen Sprachen in der Geschichte der Wissenschaft eigenthümlich ergangen ist. Einst das Orakel der aufkeimenden Forschung, dem man blindlings folgte, stehen sie jetzt bei Seite. Man kann fast sagen, statt des geflügel- ten Worts „ex oriente lux“ muss es jetzt heissen „in oriente tenebrae“. Wo kommt es denn sonst vor, dass eine Sprache, die doch ihrem Charakter nach eine reich und fein unterschei- dende ist, einen wichtigen Theil des Lautbestandes nicht etwa nur hier und da verändert, sondern förmlich verwüstet ? Fin- den sich irgendwo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so bringe man sie vor. Man denkt unwillkürlich an den neu- griechischen Itacismus. Sollen wir diesem einen arischen Alphacismus entgegen stellen? Aber jener ist ein in seiner stufenweisen Entstehung durch Zeugnisse von Jahrhunderten wohl bezeugter Process, der Alphacismus reine Hypothese. Oder sollen wir für die östliche Monotonie etwa nur die Schrift in Anspruch nehmen, vielleicht auch statt des vollen A - Lautes einen unbestimmten trüben Vocal voraussetzen, etwa wie unser sogenanntes stummes e, das Residuum volltönender Vocale? *) Diesen und ähnlichen Auffassungen steht doch die Thatsache gegenüber, dass dergleichen Laute von geringer Kraft und
*) Aehnlich Henry „étude sur l'analogie“ p. 57.
Curtius, Zur Kritik.
7
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0105"n="97"/>
Sicherheit ab, mit der anderswo die ältere Hypothese als<lb/>
völlig überwunden und die neue Lehre als über jeden Zweifel<lb/>
erhaben dargestellt wird. Solche Fragen und Zweifel wollen<lb/>
wir nun hier vorführen.</p><lb/><p>Zunächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bun-<lb/>
ten Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und<lb/>
Iraniern der ihre Sprachen charakterisirende eintönige Voca-<lb/>
lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen: „Kein<lb/>
Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich <hirendition="#i">e</hi> und <hirendition="#i">o</hi><lb/>
durchweg in das eine <hirendition="#i">a</hi> wandelte“? Auf diese Frage ist die<lb/>
Antwort der neueren Sprachforscher altum silentium, wie es<lb/>
denn überhaupt den orientalischen Sprachen in der Geschichte<lb/>
der Wissenschaft eigenthümlich ergangen ist. Einst das Orakel<lb/>
der aufkeimenden Forschung, dem man blindlings folgte, stehen<lb/>
sie jetzt bei Seite. Man kann fast sagen, statt des geflügel-<lb/>
ten Worts „<foreignxml:lang="lat">ex oriente lux</foreign>“ muss es jetzt heissen „<foreignxml:lang="lat">in oriente<lb/>
tenebrae</foreign>“. Wo kommt es denn sonst vor, dass eine Sprache,<lb/>
die doch ihrem Charakter nach eine reich und fein unterschei-<lb/>
dende ist, einen wichtigen Theil des Lautbestandes nicht etwa<lb/>
nur hier und da verändert, sondern förmlich verwüstet ? Fin-<lb/>
den sich irgendwo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so<lb/>
bringe man sie vor. Man denkt unwillkürlich an den neu-<lb/>
griechischen Itacismus. Sollen wir diesem einen arischen<lb/>
Alphacismus entgegen stellen? Aber jener ist ein in seiner<lb/>
stufenweisen Entstehung durch Zeugnisse von Jahrhunderten<lb/>
wohl bezeugter Process, der Alphacismus reine Hypothese.<lb/>
Oder sollen wir für die östliche Monotonie etwa nur die Schrift<lb/>
in Anspruch nehmen, vielleicht auch statt des vollen A - Lautes<lb/>
einen unbestimmten trüben Vocal voraussetzen, etwa wie unser<lb/>
sogenanntes stummes <hirendition="#i">e</hi>, das Residuum volltönender Vocale? <noteplace="foot"n="*)">Aehnlich Henry „étude sur l'analogie“ p. 57.</note><lb/>
Diesen und ähnlichen Auffassungen steht doch die Thatsache<lb/>
gegenüber, dass dergleichen Laute von geringer Kraft und<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Curtius, Zur Kritik.</fw><fwplace="bottom"type="sig">7</fw><lb/><lb/></p></div></body></text></TEI>
[97/0105]
Sicherheit ab, mit der anderswo die ältere Hypothese als
völlig überwunden und die neue Lehre als über jeden Zweifel
erhaben dargestellt wird. Solche Fragen und Zweifel wollen
wir nun hier vorführen.
Zunächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bun-
ten Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und
Iraniern der ihre Sprachen charakterisirende eintönige Voca-
lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen: „Kein
Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich e und o
durchweg in das eine a wandelte“? Auf diese Frage ist die
Antwort der neueren Sprachforscher altum silentium, wie es
denn überhaupt den orientalischen Sprachen in der Geschichte
der Wissenschaft eigenthümlich ergangen ist. Einst das Orakel
der aufkeimenden Forschung, dem man blindlings folgte, stehen
sie jetzt bei Seite. Man kann fast sagen, statt des geflügel-
ten Worts „ex oriente lux“ muss es jetzt heissen „in oriente
tenebrae“. Wo kommt es denn sonst vor, dass eine Sprache,
die doch ihrem Charakter nach eine reich und fein unterschei-
dende ist, einen wichtigen Theil des Lautbestandes nicht etwa
nur hier und da verändert, sondern förmlich verwüstet ? Fin-
den sich irgendwo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so
bringe man sie vor. Man denkt unwillkürlich an den neu-
griechischen Itacismus. Sollen wir diesem einen arischen
Alphacismus entgegen stellen? Aber jener ist ein in seiner
stufenweisen Entstehung durch Zeugnisse von Jahrhunderten
wohl bezeugter Process, der Alphacismus reine Hypothese.
Oder sollen wir für die östliche Monotonie etwa nur die Schrift
in Anspruch nehmen, vielleicht auch statt des vollen A - Lautes
einen unbestimmten trüben Vocal voraussetzen, etwa wie unser
sogenanntes stummes e, das Residuum volltönender Vocale? *)
Diesen und ähnlichen Auffassungen steht doch die Thatsache
gegenüber, dass dergleichen Laute von geringer Kraft und
*) Aehnlich Henry „étude sur l'analogie“ p. 57.
Curtius, Zur Kritik.
7
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/105>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.