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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Fällen vielfach schon beim Hervorbringen des ersten Lautes
der folgende vor, so dass er einen dem folgenden ähnlichen
oder gleichen Laut hervorbringt, z. B. in sumpleko, leleimmai,
sugkhronos. Beruht also auch diese und manche andere Laut-
bewegung auf psychologischem Anlass, so fehlt jedes Recht,
die Bezeichnung "seelisch", "psychologisch" ausschliesslich für
jenes uns hier vorzugsweise beschäftigende Gebiet der Ana-
logiebildungen in Anspruch zu nehmen. Damit fällt aber zu-
gleich jener Dualismus zwischen lautgesetzlich und psycho-
logisch zu Boden, der für die neuere Methode so bezeichnend
ist. Die Freunde dieser Methode, deren eifrigster mir Osthoff
zu sein scheint (vgl. unter anderm "Das Verbum in der Nomi-
nalcomposition S. 326"), führen überall so zu sagen ein dop-
peltes Conto oder Budget, ein ordinarium, das möglichst, ja
wie wir sahen, in unberechtigtem Masse, knapp gehalten wird,
das Conto für die regelmässige Lautüberlieferung, mit dem
man im wesentlichen fertig zu sein glaubt, und das extraordi-
narium von unabsehbarer Ausdehnung und uncontrolirbarem
Inhalt. In Betreff der Lautveränderung sagt Leskien "Decli-
nation" S. XXVII: "Lässt man beliebige Abweichungen zu,
so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Unter-
suchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht
zugänglich ist". Kann man nicht an die Stelle von Abwei-
chungen mit demselben Recht das Wort "Analogiewirkungen"
setzen? Ich würde indess lieber sagen, wir seien sowohl in
Betreff der Lautbewegung, als in Betreff der Analogiewirkun-
gen noch weit von einem definitiven Abschluss entfernt, und
es bleibe eben noch recht vieles dunkel, so dass wir uns mit
grösserer und geringerer Wahrscheinlichkeit begnügen müssten.
Man sieht daraus, dass es eine unabweisliche Aufgabe der
Wissenschaft sein muss, soll sie nicht in subjective Meinungen
und Willkür verfallen, nicht bloss das Gebiet der Laute, son-
dern auch das zweite Gebiet genauer zu umgrenzen. Es kommt
darauf an, für die Wahrscheinlichkeit der Analogiebildungen

Fällen vielfach schon beim Hervorbringen des ersten Lautes
der folgende vor, so dass er einen dem folgenden ähnlichen
oder gleichen Laut hervorbringt, z. B. in συμπλέκω, λέλειμμαι,
σύγχρονος. Beruht also auch diese und manche andere Laut-
bewegung auf psychologischem Anlass, so fehlt jedes Recht,
die Bezeichnung „seelisch“, „psychologisch“ ausschliesslich für
jenes uns hier vorzugsweise beschäftigende Gebiet der Ana-
logiebildungen in Anspruch zu nehmen. Damit fällt aber zu-
gleich jener Dualismus zwischen lautgesetzlich und psycho-
logisch zu Boden, der für die neuere Methode so bezeichnend
ist. Die Freunde dieser Methode, deren eifrigster mir Osthoff
zu sein scheint (vgl. unter anderm „Das Verbum in der Nomi-
nalcomposition S. 326"), führen überall so zu sagen ein dop-
peltes Conto oder Budget, ein ordinarium, das möglichst, ja
wie wir sahen, in unberechtigtem Masse, knapp gehalten wird,
das Conto für die regelmässige Lautüberlieferung, mit dem
man im wesentlichen fertig zu sein glaubt, und das extraordi-
narium von unabsehbarer Ausdehnung und uncontrolirbarem
Inhalt. In Betreff der Lautveränderung sagt Leskien „Decli-
nation“ S. XXVII: „Lässt man beliebige Abweichungen zu,
so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Unter-
suchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht
zugänglich ist“. Kann man nicht an die Stelle von Abwei-
chungen mit demselben Recht das Wort „Analogiewirkungen"
setzen? Ich würde indess lieber sagen, wir seien sowohl in
Betreff der Lautbewegung, als in Betreff der Analogiewirkun-
gen noch weit von einem definitiven Abschluss entfernt, und
es bleibe eben noch recht vieles dunkel, so dass wir uns mit
grösserer und geringerer Wahrscheinlichkeit begnügen müssten.
Man sieht daraus, dass es eine unabweisliche Aufgabe der
Wissenschaft sein muss, soll sie nicht in subjective Meinungen
und Willkür verfallen, nicht bloss das Gebiet der Laute, son-
dern auch das zweite Gebiet genauer zu umgrenzen. Es kommt
darauf an, für die Wahrscheinlichkeit der Analogiebildungen

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[46/0054] Fällen vielfach schon beim Hervorbringen des ersten Lautes der folgende vor, so dass er einen dem folgenden ähnlichen oder gleichen Laut hervorbringt, z. B. in συμπλέκω, λέλειμμαι, σύγχρονος. Beruht also auch diese und manche andere Laut- bewegung auf psychologischem Anlass, so fehlt jedes Recht, die Bezeichnung „seelisch“, „psychologisch“ ausschliesslich für jenes uns hier vorzugsweise beschäftigende Gebiet der Ana- logiebildungen in Anspruch zu nehmen. Damit fällt aber zu- gleich jener Dualismus zwischen lautgesetzlich und psycho- logisch zu Boden, der für die neuere Methode so bezeichnend ist. Die Freunde dieser Methode, deren eifrigster mir Osthoff zu sein scheint (vgl. unter anderm „Das Verbum in der Nomi- nalcomposition S. 326"), führen überall so zu sagen ein dop- peltes Conto oder Budget, ein ordinarium, das möglichst, ja wie wir sahen, in unberechtigtem Masse, knapp gehalten wird, das Conto für die regelmässige Lautüberlieferung, mit dem man im wesentlichen fertig zu sein glaubt, und das extraordi- narium von unabsehbarer Ausdehnung und uncontrolirbarem Inhalt. In Betreff der Lautveränderung sagt Leskien „Decli- nation“ S. XXVII: „Lässt man beliebige Abweichungen zu, so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Unter- suchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht zugänglich ist“. Kann man nicht an die Stelle von Abwei- chungen mit demselben Recht das Wort „Analogiewirkungen" setzen? Ich würde indess lieber sagen, wir seien sowohl in Betreff der Lautbewegung, als in Betreff der Analogiewirkun- gen noch weit von einem definitiven Abschluss entfernt, und es bleibe eben noch recht vieles dunkel, so dass wir uns mit grösserer und geringerer Wahrscheinlichkeit begnügen müssten. Man sieht daraus, dass es eine unabweisliche Aufgabe der Wissenschaft sein muss, soll sie nicht in subjective Meinungen und Willkür verfallen, nicht bloss das Gebiet der Laute, son- dern auch das zweite Gebiet genauer zu umgrenzen. Es kommt darauf an, für die Wahrscheinlichkeit der Analogiebildungen

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/54>, abgerufen am 24.11.2024.