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Dahlmann, Friedrich Christoph: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig, 1845.

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hatte: "der dritte Stand ist Alles." Sieyes, dem jener
Ausdruck unmöglich fremd geblieben seyn konnte, gab sich
die Miene der Nachgiebigkeit, indem er innerlich trium-
phirte. Eine leidenschaftliche Discussion erfolgte, selbst
das Publicum auf den Gallerien mischte sich mit Klatschen
und Murren ein, Malouet ward sogar thätlich bedroht,
aber der Vorsitzende, Bailly verschob die Entscheidung bis
auf den nächsten Tag. Mirabeau entzog sich dieser Sitzung,
deren Ergebniß er voraussah und nicht billigte. Er hatte
die Abstimmung nach Köpfen durchzusetzen, seine Schach-
partie, wie er sich unter Freunden ausdrückte, Zug für
Zug zu gewinnen gedacht; jetzt aber sah er ein Va-banque
vor Augen, welches einer Partei von beiden Alles kosten
wird. Er wollte keinen Namen, welcher die freie Geneh-
migung des Königs nimmermehr erlangen konnte. Als in
der Sitzung vom 16ten die Worte fielen: "wenn das Volk
gesprochen habe, sey die königliche Genehmigung über-
flüssig," gab er die tiefsinnige Entgegnung: "Ich, meine
Herren, ich halte das Veto des Königs in dem Grade für
nothwendig, daß ich lieber in Konstantinopel leben würde
als in Frankreich, wenn er es nicht hätte: ja ich erkläre,
nichts würde mir schrecklicher scheinen als eine souveräne
Aristokratie von sechshundert Personen, welche morgen
sich unabsetzbar, übermorgen sich erblich machen könnten,
und am Ende, wie die Aristokraten aller Länder der Welt,
Alles an sich reißen würden." Der 17te Junius entschied
mit 491 gegen 90 Stimmen die Erklärung des dritten

hatte: „der dritte Stand iſt Alles.“ Sieyes, dem jener
Ausdruck unmöglich fremd geblieben ſeyn konnte, gab ſich
die Miene der Nachgiebigkeit, indem er innerlich trium-
phirte. Eine leidenſchaftliche Discuſſion erfolgte, ſelbſt
das Publicum auf den Gallerien miſchte ſich mit Klatſchen
und Murren ein, Malouet ward ſogar thätlich bedroht,
aber der Vorſitzende, Bailly verſchob die Entſcheidung bis
auf den nächſten Tag. Mirabeau entzog ſich dieſer Sitzung,
deren Ergebniß er vorausſah und nicht billigte. Er hatte
die Abſtimmung nach Köpfen durchzuſetzen, ſeine Schach-
partie, wie er ſich unter Freunden ausdrückte, Zug für
Zug zu gewinnen gedacht; jetzt aber ſah er ein Va-banque
vor Augen, welches einer Partei von beiden Alles koſten
wird. Er wollte keinen Namen, welcher die freie Geneh-
migung des Königs nimmermehr erlangen konnte. Als in
der Sitzung vom 16ten die Worte fielen: „wenn das Volk
geſprochen habe, ſey die königliche Genehmigung über-
flüſſig,“ gab er die tiefſinnige Entgegnung: „Ich, meine
Herren, ich halte das Veto des Königs in dem Grade für
nothwendig, daß ich lieber in Konſtantinopel leben würde
als in Frankreich, wenn er es nicht hätte: ja ich erkläre,
nichts würde mir ſchrecklicher ſcheinen als eine ſouveräne
Ariſtokratie von ſechshundert Perſonen, welche morgen
ſich unabſetzbar, übermorgen ſich erblich machen könnten,
und am Ende, wie die Ariſtokraten aller Länder der Welt,
Alles an ſich reißen würden.“ Der 17te Junius entſchied
mit 491 gegen 90 Stimmen die Erklärung des dritten

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[204/0214] hatte: „der dritte Stand iſt Alles.“ Sieyes, dem jener Ausdruck unmöglich fremd geblieben ſeyn konnte, gab ſich die Miene der Nachgiebigkeit, indem er innerlich trium- phirte. Eine leidenſchaftliche Discuſſion erfolgte, ſelbſt das Publicum auf den Gallerien miſchte ſich mit Klatſchen und Murren ein, Malouet ward ſogar thätlich bedroht, aber der Vorſitzende, Bailly verſchob die Entſcheidung bis auf den nächſten Tag. Mirabeau entzog ſich dieſer Sitzung, deren Ergebniß er vorausſah und nicht billigte. Er hatte die Abſtimmung nach Köpfen durchzuſetzen, ſeine Schach- partie, wie er ſich unter Freunden ausdrückte, Zug für Zug zu gewinnen gedacht; jetzt aber ſah er ein Va-banque vor Augen, welches einer Partei von beiden Alles koſten wird. Er wollte keinen Namen, welcher die freie Geneh- migung des Königs nimmermehr erlangen konnte. Als in der Sitzung vom 16ten die Worte fielen: „wenn das Volk geſprochen habe, ſey die königliche Genehmigung über- flüſſig,“ gab er die tiefſinnige Entgegnung: „Ich, meine Herren, ich halte das Veto des Königs in dem Grade für nothwendig, daß ich lieber in Konſtantinopel leben würde als in Frankreich, wenn er es nicht hätte: ja ich erkläre, nichts würde mir ſchrecklicher ſcheinen als eine ſouveräne Ariſtokratie von ſechshundert Perſonen, welche morgen ſich unabſetzbar, übermorgen ſich erblich machen könnten, und am Ende, wie die Ariſtokraten aller Länder der Welt, Alles an ſich reißen würden.“ Der 17te Junius entſchied mit 491 gegen 90 Stimmen die Erklärung des dritten

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Leipzig, 1845, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_geschichte_1845/214>, abgerufen am 21.11.2024.