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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Bildung der zweiten Kammer.
dadurch die Entscheidung aus der Hand der Leidenschaft
in die der Gleichgültigkeit und schließlich in die der Intri-
gue. Weil man die lärmende Unordnung vermieden hat
und reinliche Wahlprotocolle zu lesen bekommt, bildet man
bequem sich ein, es gehe Alles mit rechten Dingen unter
den Wählern zu, aus deren engem Kreise mehrentheils doch
auch gewählt wird. Außerdem hat Burke recht: "Un-
ter den Befugnissen, die sich nicht auf andere übertragen
lassen, giebt es keine, die so ungeschickt dazu wäre als die
Befugniß, eine persönliche Wahl anzustellen. Handelt der
Abgeordnete den Rechten und Vortheilen seiner Constituen-
ten zuwider, so können sich diese nie an ihn, sondern nur
an die Versammlung der Wähler halten, die sie gewählt
hatten, um ihn zu wählen".

Der an sich ungerechte Vorwurf, daß das Repräsentativ-System
auf Mechanik, Täuschung, Zufall beruhe, trifft gar sehr die
Wahlcollegien, welche man so unbesehens in unsere Deutschen
Wahlgesetze aufgenommen und selbst bis zu dreifachen Wahlen ver-
feinert sieht. Frankreich hatte seine Commünen zerrissen, und Frei-
heit und Gleichheit versprochen; nun fürchtete man Pöbelwahlen
und erfand die Wahlcollegien. Deutschland kann durch ein tüch-
tiges Gemeindewesen directe Wahlen gewinnen, die nicht Pöbel-
wahlen sind. (Eine löbliche Ausnahme bildet in dieser Beziehung
die Verordnung wegen näherer Regulirung der ständischen Ver-
hältnisse in dem Herzogthum Holstein vom 15. May 1834.,
welche directe Wahlen anordnet, aber freilich auf Besitz von
Grundeigenthum, selbst in Städten, Wählerrecht und Wählbar-
keit beschränkt, und, weil das Gemeindewesen fehlt, doch am
Ende nur nach dem Census.) Wer möchte es unbedenklich finden,
daß das Englische Unterhaus durch die Reformacte 800,000
Wähler erhalten hat? und wer sollte nicht wünschen, daß, wenn
die Verbesserung des Brittischen Gemeindewesens gelingt, es mög-
lich seyn möge, ein ächteres Princip der Wahlberechtigung einzu-
führen? Nur ja nicht das der Französischen Restauration, die, als sie

Bildung der zweiten Kammer.
dadurch die Entſcheidung aus der Hand der Leidenſchaft
in die der Gleichguͤltigkeit und ſchließlich in die der Intri-
gue. Weil man die laͤrmende Unordnung vermieden hat
und reinliche Wahlprotocolle zu leſen bekommt, bildet man
bequem ſich ein, es gehe Alles mit rechten Dingen unter
den Waͤhlern zu, aus deren engem Kreiſe mehrentheils doch
auch gewaͤhlt wird. Außerdem hat Burke recht: „Un-
ter den Befugniſſen, die ſich nicht auf andere uͤbertragen
laſſen, giebt es keine, die ſo ungeſchickt dazu waͤre als die
Befugniß, eine perſoͤnliche Wahl anzuſtellen. Handelt der
Abgeordnete den Rechten und Vortheilen ſeiner Conſtituen-
ten zuwider, ſo koͤnnen ſich dieſe nie an ihn, ſondern nur
an die Verſammlung der Waͤhler halten, die ſie gewaͤhlt
hatten, um ihn zu waͤhlen“.

Der an ſich ungerechte Vorwurf, daß das Repraͤſentativ-Syſtem
auf Mechanik, Taͤuſchung, Zufall beruhe, trifft gar ſehr die
Wahlcollegien, welche man ſo unbeſehens in unſere Deutſchen
Wahlgeſetze aufgenommen und ſelbſt bis zu dreifachen Wahlen ver-
feinert ſieht. Frankreich hatte ſeine Commuͤnen zerriſſen, und Frei-
heit und Gleichheit verſprochen; nun fuͤrchtete man Poͤbelwahlen
und erfand die Wahlcollegien. Deutſchland kann durch ein tuͤch-
tiges Gemeindeweſen directe Wahlen gewinnen, die nicht Poͤbel-
wahlen ſind. (Eine loͤbliche Ausnahme bildet in dieſer Beziehung
die Verordnung wegen naͤherer Regulirung der ſtaͤndiſchen Ver-
haͤltniſſe in dem Herzogthum Holſtein vom 15. May 1834.,
welche directe Wahlen anordnet, aber freilich auf Beſitz von
Grundeigenthum, ſelbſt in Staͤdten, Waͤhlerrecht und Waͤhlbar-
keit beſchraͤnkt, und, weil das Gemeindeweſen fehlt, doch am
Ende nur nach dem Cenſus.) Wer moͤchte es unbedenklich finden,
daß das Engliſche Unterhaus durch die Reformacte 800,000
Waͤhler erhalten hat? und wer ſollte nicht wuͤnſchen, daß, wenn
die Verbeſſerung des Brittiſchen Gemeindeweſens gelingt, es moͤg-
lich ſeyn moͤge, ein aͤchteres Princip der Wahlberechtigung einzu-
fuͤhren? Nur ja nicht das der Franzoͤſiſchen Reſtauration, die, als ſie

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[133/0145] Bildung der zweiten Kammer. dadurch die Entſcheidung aus der Hand der Leidenſchaft in die der Gleichguͤltigkeit und ſchließlich in die der Intri- gue. Weil man die laͤrmende Unordnung vermieden hat und reinliche Wahlprotocolle zu leſen bekommt, bildet man bequem ſich ein, es gehe Alles mit rechten Dingen unter den Waͤhlern zu, aus deren engem Kreiſe mehrentheils doch auch gewaͤhlt wird. Außerdem hat Burke recht: „Un- ter den Befugniſſen, die ſich nicht auf andere uͤbertragen laſſen, giebt es keine, die ſo ungeſchickt dazu waͤre als die Befugniß, eine perſoͤnliche Wahl anzuſtellen. Handelt der Abgeordnete den Rechten und Vortheilen ſeiner Conſtituen- ten zuwider, ſo koͤnnen ſich dieſe nie an ihn, ſondern nur an die Verſammlung der Waͤhler halten, die ſie gewaͤhlt hatten, um ihn zu waͤhlen“. Der an ſich ungerechte Vorwurf, daß das Repraͤſentativ-Syſtem auf Mechanik, Taͤuſchung, Zufall beruhe, trifft gar ſehr die Wahlcollegien, welche man ſo unbeſehens in unſere Deutſchen Wahlgeſetze aufgenommen und ſelbſt bis zu dreifachen Wahlen ver- feinert ſieht. Frankreich hatte ſeine Commuͤnen zerriſſen, und Frei- heit und Gleichheit verſprochen; nun fuͤrchtete man Poͤbelwahlen und erfand die Wahlcollegien. Deutſchland kann durch ein tuͤch- tiges Gemeindeweſen directe Wahlen gewinnen, die nicht Poͤbel- wahlen ſind. (Eine loͤbliche Ausnahme bildet in dieſer Beziehung die Verordnung wegen naͤherer Regulirung der ſtaͤndiſchen Ver- haͤltniſſe in dem Herzogthum Holſtein vom 15. May 1834., welche directe Wahlen anordnet, aber freilich auf Beſitz von Grundeigenthum, ſelbſt in Staͤdten, Waͤhlerrecht und Waͤhlbar- keit beſchraͤnkt, und, weil das Gemeindeweſen fehlt, doch am Ende nur nach dem Cenſus.) Wer moͤchte es unbedenklich finden, daß das Engliſche Unterhaus durch die Reformacte 800,000 Waͤhler erhalten hat? und wer ſollte nicht wuͤnſchen, daß, wenn die Verbeſſerung des Brittiſchen Gemeindeweſens gelingt, es moͤg- lich ſeyn moͤge, ein aͤchteres Princip der Wahlberechtigung einzu- fuͤhren? Nur ja nicht das der Franzoͤſiſchen Reſtauration, die, als ſie

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/145>, abgerufen am 24.11.2024.