Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.Zwölftes Capitel. ergreifender dargestellt als Rousseau in seinem Emil, jeneUnnatur von Anfang her, jenes Leben für Andere, nicht um ihnen zu nutzen, sondern sie zu benutzen, ihnen zu ge- fallen, wozu das Leben von Paris so unzählige Bilder darbot, das eitle und doch so schwere Geschäft der Ver- gnügungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das Ziel des menschlichen Lebens zu verlernen. Alle diese Verderbnisse mißt Rousseau der Cultur, der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Wissenschaften bei, indeß kann er auch den Naturstand nicht billigen, denn für diesen bleiben ihm nur rohe Instincte und körperliche Bedürfnisse übrig. Darum schafft er sich einen gewissen Mittelzustand, in dem Familie und Vaterland schon ist, aber noch nicht was sich Alles weiter bei uns daran knüpft und findet diesen nahe am Naturstande im Leben der Wilden, überspringt dabei ohne Mühe die Inconsequenz, die einen Anfang der Bil- dung gutheißt, aber nicht ihren Fortgang, statt das Ver- trauen zu fassen, daß dieselbe geheimnißvoll durchdringende Kraft der bürgerlichen Gesellschaft, die allein die Tugen- den der Menschen entfaltet, auch durch die Wege und Irr- wege der Bildung den Rückweg zur Natur finden und den Kreis glücklich vollenden werde. Seiner phantastischen Wärme des Herzens fehlte die sittliche Tiefe und jene von keinem Dogmenstreite abhängige Religiosität, mit welcher sich der Einzelne den Bahnen anzuschließen hat, welche mit hellen Zügen dem ganzen Geschlechte vorgeschrieben sind. Wie ein an sich widersinniger Zustand dennoch, weil er einmahl da ist, leidlich einzurichten sey, entschloß sich Rousseau nachher im Contrat social zu schildern. Allen Glanz, alle Tiefe und alle Schiefe dieser verführerischen Dar- Zwoͤlftes Capitel. ergreifender dargeſtellt als Rouſſeau in ſeinem Emil, jeneUnnatur von Anfang her, jenes Leben fuͤr Andere, nicht um ihnen zu nutzen, ſondern ſie zu benutzen, ihnen zu ge- fallen, wozu das Leben von Paris ſo unzaͤhlige Bilder darbot, das eitle und doch ſo ſchwere Geſchaͤft der Ver- gnuͤgungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das Ziel des menſchlichen Lebens zu verlernen. Alle dieſe Verderbniſſe mißt Rouſſeau der Cultur, der buͤrgerlichen Geſellſchaft und ihren Wiſſenſchaften bei, indeß kann er auch den Naturſtand nicht billigen, denn fuͤr dieſen bleiben ihm nur rohe Inſtincte und koͤrperliche Beduͤrfniſſe uͤbrig. Darum ſchafft er ſich einen gewiſſen Mittelzuſtand, in dem Familie und Vaterland ſchon iſt, aber noch nicht was ſich Alles weiter bei uns daran knuͤpft und findet dieſen nahe am Naturſtande im Leben der Wilden, uͤberſpringt dabei ohne Muͤhe die Inconſequenz, die einen Anfang der Bil- dung gutheißt, aber nicht ihren Fortgang, ſtatt das Ver- trauen zu faſſen, daß dieſelbe geheimnißvoll durchdringende Kraft der buͤrgerlichen Geſellſchaft, die allein die Tugen- den der Menſchen entfaltet, auch durch die Wege und Irr- wege der Bildung den Ruͤckweg zur Natur finden und den Kreis gluͤcklich vollenden werde. Seiner phantaſtiſchen Waͤrme des Herzens fehlte die ſittliche Tiefe und jene von keinem Dogmenſtreite abhaͤngige Religioſitaͤt, mit welcher ſich der Einzelne den Bahnen anzuſchließen hat, welche mit hellen Zuͤgen dem ganzen Geſchlechte vorgeſchrieben ſind. Wie ein an ſich widerſinniger Zuſtand dennoch, weil er einmahl da iſt, leidlich einzurichten ſey, entſchloß ſich Rouſſeau nachher im Contrat social zu ſchildern. Allen Glanz, alle Tiefe und alle Schiefe dieſer verfuͤhreriſchen Dar- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0274" n="262"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zwoͤlftes Capitel</hi>.</fw><lb/> ergreifender dargeſtellt als Rouſſeau in ſeinem Emil, jene<lb/> Unnatur von Anfang her, jenes Leben fuͤr Andere, nicht<lb/> um ihnen zu nutzen, ſondern ſie zu benutzen, ihnen zu ge-<lb/> fallen, wozu das Leben von Paris ſo unzaͤhlige Bilder<lb/> darbot, das eitle und doch ſo ſchwere Geſchaͤft der Ver-<lb/> gnuͤgungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das<lb/> Ziel des menſchlichen Lebens zu <hi rendition="#g">ver</hi>lernen. 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Zwoͤlftes Capitel.
ergreifender dargeſtellt als Rouſſeau in ſeinem Emil, jene
Unnatur von Anfang her, jenes Leben fuͤr Andere, nicht
um ihnen zu nutzen, ſondern ſie zu benutzen, ihnen zu ge-
fallen, wozu das Leben von Paris ſo unzaͤhlige Bilder
darbot, das eitle und doch ſo ſchwere Geſchaͤft der Ver-
gnuͤgungen und Alles das um die einfache Wahrheit, das
Ziel des menſchlichen Lebens zu verlernen. Alle dieſe
Verderbniſſe mißt Rouſſeau der Cultur, der buͤrgerlichen
Geſellſchaft und ihren Wiſſenſchaften bei, indeß kann er
auch den Naturſtand nicht billigen, denn fuͤr dieſen bleiben
ihm nur rohe Inſtincte und koͤrperliche Beduͤrfniſſe uͤbrig.
Darum ſchafft er ſich einen gewiſſen Mittelzuſtand, in dem
Familie und Vaterland ſchon iſt, aber noch nicht was ſich
Alles weiter bei uns daran knuͤpft und findet dieſen nahe
am Naturſtande im Leben der Wilden, uͤberſpringt dabei
ohne Muͤhe die Inconſequenz, die einen Anfang der Bil-
dung gutheißt, aber nicht ihren Fortgang, ſtatt das Ver-
trauen zu faſſen, daß dieſelbe geheimnißvoll durchdringende
Kraft der buͤrgerlichen Geſellſchaft, die allein die Tugen-
den der Menſchen entfaltet, auch durch die Wege und Irr-
wege der Bildung den Ruͤckweg zur Natur finden und
den Kreis gluͤcklich vollenden werde. Seiner phantaſtiſchen
Waͤrme des Herzens fehlte die ſittliche Tiefe und jene von
keinem Dogmenſtreite abhaͤngige Religioſitaͤt, mit welcher
ſich der Einzelne den Bahnen anzuſchließen hat, welche mit
hellen Zuͤgen dem ganzen Geſchlechte vorgeſchrieben ſind.
Wie ein an ſich widerſinniger Zuſtand dennoch, weil er
einmahl da iſt, leidlich einzurichten ſey, entſchloß ſich
Rouſſeau nachher im Contrat social zu ſchildern.
Allen Glanz, alle Tiefe und alle Schiefe dieſer verfuͤhreriſchen Dar-
ſtellung zeigen gleich die Anfangsworte des Emil. Tout est bien,
sortant des mains de l’Auteur des choses: tout dégenère entre
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