Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Funfzehntes Capitel.
ihren Misbrauch freveln könne. Die Sittenlehre weiß da-
von viel zu sagen und das Strafgesetz, und daß durch vie-
len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe
der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum
Krankhaften gesteigerte Empfindlichkeit unsrer Continental-
Ohren (die Alten und die Engländer leiden nicht daran,)
durch Injurienprocesse aller Art. Vom Kindesalter an er-
heben sich die meisten Streitigkeiten nicht über Thaten, son-
dern über Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche
der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht
der Worte, vornehmlich der in Schrift gesetzten (denn die
übrigen sind schwer zu hindern, verhallen auch) von Alters
her bei ihren Unterthanen scheuen mußten; denn die Unter-
thanenworte könnten leicht viel anders lauten als die ihren.
Schon der alte Verfasser des Vridank klagt, wenn er Alles
so schreiben wolle wie er es wisse, müsse er außer Landes
gehn. Diese Furcht muß zunehmen seit für ganze Völker
geschrieben wird, und sie ist den Regierungen jeder Form
gemein, denn nirgend ward die Presse ärger tyrannisirt als
im republikanischen Frankreich. Von der andern Seite wird
die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt
nicht bloß durch einen Kreis der Wissenschaftlichen, der ein
Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet,
möge sie auch der Kirche und dem Staate noch so unbe-
quem seyn, sie wird durch lesende und schreibende Völker
unterstützt. Kein Volk, das die Macht dazu in Händen
hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift
entsagen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte sich das
Parlament 1694 die bisherigen Hindernisse der Preßfrei-
heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur-
theilten die Geschworenen auch in Preßsachen, weil aber
noch die Hauptsache, die Entscheidung, ob die in Frage

Funfzehntes Capitel.
ihren Misbrauch freveln koͤnne. Die Sittenlehre weiß da-
von viel zu ſagen und das Strafgeſetz, und daß durch vie-
len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe
der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum
Krankhaften geſteigerte Empfindlichkeit unſrer Continental-
Ohren (die Alten und die Englaͤnder leiden nicht daran,)
durch Injurienproceſſe aller Art. Vom Kindesalter an er-
heben ſich die meiſten Streitigkeiten nicht uͤber Thaten, ſon-
dern uͤber Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche
der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht
der Worte, vornehmlich der in Schrift geſetzten (denn die
uͤbrigen ſind ſchwer zu hindern, verhallen auch) von Alters
her bei ihren Unterthanen ſcheuen mußten; denn dïe Unter-
thanenworte koͤnnten leicht viel anders lauten als die ihren.
Schon der alte Verfaſſer des Vridank klagt, wenn er Alles
ſo ſchreiben wolle wie er es wiſſe, muͤſſe er außer Landes
gehn. Dieſe Furcht muß zunehmen ſeit fuͤr ganze Voͤlker
geſchrieben wird, und ſie iſt den Regierungen jeder Form
gemein, denn nirgend ward die Preſſe aͤrger tyranniſirt als
im republikaniſchen Frankreich. Von der andern Seite wird
die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt
nicht bloß durch einen Kreis der Wiſſenſchaftlichen, der ein
Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet,
moͤge ſie auch der Kirche und dem Staate noch ſo unbe-
quem ſeyn, ſie wird durch leſende und ſchreibende Voͤlker
unterſtuͤtzt. Kein Volk, das die Macht dazu in Haͤnden
hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift
entſagen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte ſich das
Parlament 1694 die bisherigen Hinderniſſe der Preßfrei-
heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur-
theilten die Geſchworenen auch in Preßſachen, weil aber
noch die Hauptſache, die Entſcheidung, ob die in Frage

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0312" n="300"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Funfzehntes Capitel</hi>.</fw><lb/>
ihren Misbrauch freveln ko&#x0364;nne. Die Sittenlehre weiß da-<lb/>
von viel zu &#x017F;agen und das Strafge&#x017F;etz, und daß durch vie-<lb/>
len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe<lb/>
der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum<lb/>
Krankhaften ge&#x017F;teigerte Empfindlichkeit un&#x017F;rer Continental-<lb/>
Ohren (die Alten und die Engla&#x0364;nder leiden nicht daran,)<lb/>
durch Injurienproce&#x017F;&#x017F;e aller Art. Vom Kindesalter an er-<lb/>
heben &#x017F;ich die mei&#x017F;ten Streitigkeiten nicht u&#x0364;ber Thaten, &#x017F;on-<lb/>
dern u&#x0364;ber Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche<lb/>
der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht<lb/>
der Worte, vornehmlich der in Schrift ge&#x017F;etzten (denn die<lb/>
u&#x0364;brigen &#x017F;ind &#x017F;chwer zu hindern, verhallen auch) von Alters<lb/>
her bei ihren Unterthanen &#x017F;cheuen mußten; denn dïe Unter-<lb/>
thanenworte ko&#x0364;nnten leicht viel anders lauten als die ihren.<lb/>
Schon der alte Verfa&#x017F;&#x017F;er des Vridank klagt, wenn er Alles<lb/>
&#x017F;o &#x017F;chreiben wolle wie er es wi&#x017F;&#x017F;e, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e er außer Landes<lb/>
gehn. Die&#x017F;e Furcht muß zunehmen &#x017F;eit fu&#x0364;r ganze Vo&#x0364;lker<lb/>
ge&#x017F;chrieben wird, und &#x017F;ie i&#x017F;t den Regierungen jeder Form<lb/>
gemein, denn nirgend ward die Pre&#x017F;&#x017F;e a&#x0364;rger tyranni&#x017F;irt als<lb/>
im republikani&#x017F;chen Frankreich. Von der andern Seite wird<lb/>
die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt<lb/>
nicht bloß durch einen Kreis der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen, der ein<lb/>
Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet,<lb/>
mo&#x0364;ge &#x017F;ie auch der Kirche und dem Staate noch &#x017F;o unbe-<lb/>
quem &#x017F;eyn, &#x017F;ie wird durch le&#x017F;ende und &#x017F;chreibende Vo&#x0364;lker<lb/>
unter&#x017F;tu&#x0364;tzt. Kein Volk, das die Macht dazu in Ha&#x0364;nden<lb/>
hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift<lb/>
ent&#x017F;agen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte &#x017F;ich das<lb/>
Parlament 1694 die bisherigen Hinderni&#x017F;&#x017F;e der Preßfrei-<lb/>
heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur-<lb/>
theilten die Ge&#x017F;chworenen auch in Preß&#x017F;achen, weil aber<lb/>
noch die Haupt&#x017F;ache, die Ent&#x017F;cheidung, ob die in Frage<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[300/0312] Funfzehntes Capitel. ihren Misbrauch freveln koͤnne. Die Sittenlehre weiß da- von viel zu ſagen und das Strafgeſetz, und daß durch vie- len Gebrauch die Worte nichts an ihrer Kraft im Laufe der Jahrhunderte verloren haben, bezeugt die bis zum Krankhaften geſteigerte Empfindlichkeit unſrer Continental- Ohren (die Alten und die Englaͤnder leiden nicht daran,) durch Injurienproceſſe aller Art. Vom Kindesalter an er- heben ſich die meiſten Streitigkeiten nicht uͤber Thaten, ſon- dern uͤber Worte. Weiter folgt, daß die Machthaber, welche der Natur der Sache nach das freie Wort haben, die Macht der Worte, vornehmlich der in Schrift geſetzten (denn die uͤbrigen ſind ſchwer zu hindern, verhallen auch) von Alters her bei ihren Unterthanen ſcheuen mußten; denn dïe Unter- thanenworte koͤnnten leicht viel anders lauten als die ihren. Schon der alte Verfaſſer des Vridank klagt, wenn er Alles ſo ſchreiben wolle wie er es wiſſe, muͤſſe er außer Landes gehn. Dieſe Furcht muß zunehmen ſeit fuͤr ganze Voͤlker geſchrieben wird, und ſie iſt den Regierungen jeder Form gemein, denn nirgend ward die Preſſe aͤrger tyranniſirt als im republikaniſchen Frankreich. Von der andern Seite wird die Begierde nach der Wohlthat des freien Worts jetzt nicht bloß durch einen Kreis der Wiſſenſchaftlichen, der ein Recht auf die Wahrheit und ihre Mittheilung behauptet, moͤge ſie auch der Kirche und dem Staate noch ſo unbe- quem ſeyn, ſie wird durch leſende und ſchreibende Voͤlker unterſtuͤtzt. Kein Volk, das die Macht dazu in Haͤnden hat, wird um ihrer Gefahr willen der freien Schrift entſagen. Nach dem Sturze der Stuarts weigerte ſich das Parlament 1694 die bisherigen Hinderniſſe der Preßfrei- heit in England ferner zu genehmigen. Von nun an ur- theilten die Geſchworenen auch in Preßſachen, weil aber noch die Hauptſache, die Entſcheidung, ob die in Frage

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/312
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/312>, abgerufen am 21.11.2024.