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Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859.

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Denker und Ethiker stellte, desto unerreichlicher erschien dieses
Musterbild; je stolzer die Idee, um so beschämter und de-
müthiger empfand sich das seine Mangelhaftigkeit damit
vergleichende Individuum. Was den in Beschreibung des
stoischen Weisen, seiner Würde und seines Glückes aller-
dings sehr hochfliegenden und überschwänglichen Seneca
betrifft, so erklärt sich derselbe doch in Rücksicht auf sich
selbst mit einer Offenheit und Bescheidenheit, an der Nichts
auszusetzen ist. So sagt er de vita beata 17: "Ich
bin kein Weiser, werde auch keiner werden. Meine For-
derung an mich selbst ist nicht diese, daß ich den Trefflich-
sten gleich, sondern nur besser, als die Schlechten sei. Es
ist mir genug, wenn ich täglich von meinen Fehlern Etwas
ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe." -- -- --
"Von der Tugend rede ich, nicht von mir; und wenn
ich auf die Laster schelte, so schelte ich am ersten auf die
meinigen." -- -- -- "Nichts soll mich hindern, die Tu-
gend anzubeten und ihr von meinem mächtigen Abstande
aus mit wankendem Schritte nachzugehen." Und de
tranquill. an.
7: "Es ist nicht gemeint, als ob ich dir
zur Regel machte, du sollest dich nur mit einem Weisen
berühren; denn wo wirst du den finden, den man schon
so viele Jahrhunderte sucht! Für den Besten muß der
gelten, der am wenigsten schlimm." Der idealistischen Ethik
des Stoikers genügt nicht bloße Gesetzlichkeit und äußere
Schuldlosigkeit; wer aber will sich rühmen, auch den höhe-
ren Anforderungen des Sittengesetzes vollkommen Genüge
gethan zu haben! So heißt es bei Seneca de ira I. 14:
"Es gibt keinen Menschen, der sich frei sprechen könnte;
und wenn Jemand behauptet, er sei ohne Schuld, so kann
dies nur in Rücksicht auf Zeugen, nicht aber auf sein
Gewissen gelten." Und daselbst II. 28: "Kein Mensch
ist ohne Schuld. Du sprichst: Ich habe nicht gefehlt; ich

Denker und Ethiker ſtellte, deſto unerreichlicher erſchien dieſes
Muſterbild; je ſtolzer die Idee, um ſo beſchämter und de-
müthiger empfand ſich das ſeine Mangelhaftigkeit damit
vergleichende Individuum. Was den in Beſchreibung des
ſtoiſchen Weiſen, ſeiner Würde und ſeines Glückes aller-
dings ſehr hochfliegenden und überſchwänglichen Seneca
betrifft, ſo erklärt ſich derſelbe doch in Rückſicht auf ſich
ſelbſt mit einer Offenheit und Beſcheidenheit, an der Nichts
auszuſetzen iſt. So ſagt er de vita beata 17: „Ich
bin kein Weiſer, werde auch keiner werden. Meine For-
derung an mich ſelbſt iſt nicht dieſe, daß ich den Trefflich-
ſten gleich, ſondern nur beſſer, als die Schlechten ſei. Es
iſt mir genug, wenn ich täglich von meinen Fehlern Etwas
ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe.“ — — —
„Von der Tugend rede ich, nicht von mir; und wenn
ich auf die Laſter ſchelte, ſo ſchelte ich am erſten auf die
meinigen.“ — — — „Nichts ſoll mich hindern, die Tu-
gend anzubeten und ihr von meinem mächtigen Abſtande
aus mit wankendem Schritte nachzugehen.“ Und de
tranquill. an.
7: „Es iſt nicht gemeint, als ob ich dir
zur Regel machte, du ſolleſt dich nur mit einem Weiſen
berühren; denn wo wirſt du den finden, den man ſchon
ſo viele Jahrhunderte ſucht! Für den Beſten muß der
gelten, der am wenigſten ſchlimm.“ Der idealiſtiſchen Ethik
des Stoikers genügt nicht bloße Geſetzlichkeit und äußere
Schuldloſigkeit; wer aber will ſich rühmen, auch den höhe-
ren Anforderungen des Sittengeſetzes vollkommen Genüge
gethan zu haben! So heißt es bei Seneca de ira I. 14:
„Es gibt keinen Menſchen, der ſich frei ſprechen könnte;
und wenn Jemand behauptet, er ſei ohne Schuld, ſo kann
dies nur in Rückſicht auf Zeugen, nicht aber auf ſein
Gewiſſen gelten.“ Und daſelbſt II. 28: „Kein Menſch
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[76/0098] Denker und Ethiker ſtellte, deſto unerreichlicher erſchien dieſes Muſterbild; je ſtolzer die Idee, um ſo beſchämter und de- müthiger empfand ſich das ſeine Mangelhaftigkeit damit vergleichende Individuum. Was den in Beſchreibung des ſtoiſchen Weiſen, ſeiner Würde und ſeines Glückes aller- dings ſehr hochfliegenden und überſchwänglichen Seneca betrifft, ſo erklärt ſich derſelbe doch in Rückſicht auf ſich ſelbſt mit einer Offenheit und Beſcheidenheit, an der Nichts auszuſetzen iſt. So ſagt er de vita beata 17: „Ich bin kein Weiſer, werde auch keiner werden. Meine For- derung an mich ſelbſt iſt nicht dieſe, daß ich den Trefflich- ſten gleich, ſondern nur beſſer, als die Schlechten ſei. Es iſt mir genug, wenn ich täglich von meinen Fehlern Etwas ablege und mir meine Verirrungen vorwerfe.“ — — — „Von der Tugend rede ich, nicht von mir; und wenn ich auf die Laſter ſchelte, ſo ſchelte ich am erſten auf die meinigen.“ — — — „Nichts ſoll mich hindern, die Tu- gend anzubeten und ihr von meinem mächtigen Abſtande aus mit wankendem Schritte nachzugehen.“ Und de tranquill. an. 7: „Es iſt nicht gemeint, als ob ich dir zur Regel machte, du ſolleſt dich nur mit einem Weiſen berühren; denn wo wirſt du den finden, den man ſchon ſo viele Jahrhunderte ſucht! Für den Beſten muß der gelten, der am wenigſten ſchlimm.“ Der idealiſtiſchen Ethik des Stoikers genügt nicht bloße Geſetzlichkeit und äußere Schuldloſigkeit; wer aber will ſich rühmen, auch den höhe- ren Anforderungen des Sittengeſetzes vollkommen Genüge gethan zu haben! So heißt es bei Seneca de ira I. 14: „Es gibt keinen Menſchen, der ſich frei ſprechen könnte; und wenn Jemand behauptet, er ſei ohne Schuld, ſo kann dies nur in Rückſicht auf Zeugen, nicht aber auf ſein Gewiſſen gelten.“ Und daſelbſt II. 28: „Kein Menſch iſt ohne Schuld. Du ſprichſt: Ich habe nicht gefehlt; ich

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Zitationshilfe: Daumer, Georg Friedrich: Die dreifache Krone Rom's. Münster, 1859, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/daumer_krone_1859/98>, abgerufen am 24.11.2024.