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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance

Allerdings ist die Sachlage hiermit noch keineswegs bis in alle
Einzelheiten aufgeklärt. Haben wir den Schedelschen Text als den
unmittelbaren Wortlaut von Lionardos Aufzeichnung zu betrachten?
In der lateinischen Fassung gewiß nicht. Zwar, ob dieselbe eine
bloße Übersetzung, ob eine tiefergehende Bearbeitung, darauf
würde nicht einmal viel ankommen. Wichtiger ist, ob und wie
Lascaris dazu in Beziehung zu denken sei? Eine solche voraus-
gesetzt, hat er, oder einer seiner humanistischen Genossen, die erste
Anregung gegeben, daß Lionardo die Lösung der Aufgabe in die Hand
nahm? oder hat er nur die uns vorliegende spätere Redaktion ver-
anlaßt? Weiter: welche Stelle und Bedeutung hat die ars litteraria
in dem Zusammenklang der universalen Spekulationen des großen
Künstler-Gelehrten? ... Alle diese Fragen müssen offen bleiben,
bis der literarische Nachlaß Lionardos vollständig zusammenge-
bracht und durch den Druck zugänglich gemacht sein wird. Mit
aller Zuversicht aber getraue ich mir schon jetzt anzugeben, und das
ist schließlich das Wichtigste, auf welchem Wege Lionardo zu den
Normen seiner Letternkonstruktion gekommen ist. Durch Vitruv.
Und zwar durch die beiden Sätze im ersten Kapitel des dritten
Buches: daß der Körper des Menschen seiner Länge nach in zehn
Teile zerlegt werden kann, wofür die Einheit in der Gesichtslänge
vom Kinn bis zum Haaransatz zu finden sei; sodann daß die mensch-
liche Gestalt, mit ausgespreiteten Armen und Beinen gedacht,
sowohl in einen Kreis als in ein Quadrat sich einschreiben lasse;
dem Gliederungsgesetze der menschlichen Gestalt aber sollen die
Maßverhältnisse eines Bauwerkes entsprechen (namque non potest
aedes ulla sine symmetria atque proportione rationem habere
compositionis, nisi ut ad hominis bene figurati membrorum habuerit
exactam rationem). -- Diese Analogie einmal anerkannt -- und
man weiß, wie sehr sie den italienischen Theoretikern, von L.
B. Alberti ab, behagt hat -- war es für Lionardo ein durch-
aus angemessener Gedanke, die Figuration der Buchstaben dem-
selben Gesetze zu unterstellen, in dem richtigen Gefühle, daß Schreib-
kunst und Baukunst von Grund aus Verwandte seien. Abgesehen
von der schlagenden Übereinstimmung der angewandten Prin-
zipien, wissen wir durch Luca Pacioli, daß Lionardo sich ernstlich

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 14
Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance

Allerdings ist die Sachlage hiermit noch keineswegs bis in alle
Einzelheiten aufgeklärt. Haben wir den Schedelschen Text als den
unmittelbaren Wortlaut von Lionardos Aufzeichnung zu betrachten?
In der lateinischen Fassung gewiß nicht. Zwar, ob dieselbe eine
bloße Übersetzung, ob eine tiefergehende Bearbeitung, darauf
würde nicht einmal viel ankommen. Wichtiger ist, ob und wie
Lascaris dazu in Beziehung zu denken sei? Eine solche voraus-
gesetzt, hat er, oder einer seiner humanistischen Genossen, die erste
Anregung gegeben, daß Lionardo die Lösung der Aufgabe in die Hand
nahm? oder hat er nur die uns vorliegende spätere Redaktion ver-
anlaßt? Weiter: welche Stelle und Bedeutung hat die ars litteraria
in dem Zusammenklang der universalen Spekulationen des großen
Künstler-Gelehrten? ... Alle diese Fragen müssen offen bleiben,
bis der literarische Nachlaß Lionardos vollständig zusammenge-
bracht und durch den Druck zugänglich gemacht sein wird. Mit
aller Zuversicht aber getraue ich mir schon jetzt anzugeben, und das
ist schließlich das Wichtigste, auf welchem Wege Lionardo zu den
Normen seiner Letternkonstruktion gekommen ist. Durch Vitruv.
Und zwar durch die beiden Sätze im ersten Kapitel des dritten
Buches: daß der Körper des Menschen seiner Länge nach in zehn
Teile zerlegt werden kann, wofür die Einheit in der Gesichtslänge
vom Kinn bis zum Haaransatz zu finden sei; sodann daß die mensch-
liche Gestalt, mit ausgespreiteten Armen und Beinen gedacht,
sowohl in einen Kreis als in ein Quadrat sich einschreiben lasse;
dem Gliederungsgesetze der menschlichen Gestalt aber sollen die
Maßverhältnisse eines Bauwerkes entsprechen (namque non potest
aedes ulla sine symmetria atque proportione rationem habere
compositionis, nisi ut ad hominis bene figurati membrorum habuerit
exactam rationem). — Diese Analogie einmal anerkannt — und
man weiß, wie sehr sie den italienischen Theoretikern, von L.
B. Alberti ab, behagt hat — war es für Lionardo ein durch-
aus angemessener Gedanke, die Figuration der Buchstaben dem-
selben Gesetze zu unterstellen, in dem richtigen Gefühle, daß Schreib-
kunst und Baukunst von Grund aus Verwandte seien. Abgesehen
von der schlagenden Übereinstimmung der angewandten Prin-
zipien, wissen wir durch Luca Pacioli, daß Lionardo sich ernstlich

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 14
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[209/0261] Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance Allerdings ist die Sachlage hiermit noch keineswegs bis in alle Einzelheiten aufgeklärt. Haben wir den Schedelschen Text als den unmittelbaren Wortlaut von Lionardos Aufzeichnung zu betrachten? In der lateinischen Fassung gewiß nicht. Zwar, ob dieselbe eine bloße Übersetzung, ob eine tiefergehende Bearbeitung, darauf würde nicht einmal viel ankommen. Wichtiger ist, ob und wie Lascaris dazu in Beziehung zu denken sei? Eine solche voraus- gesetzt, hat er, oder einer seiner humanistischen Genossen, die erste Anregung gegeben, daß Lionardo die Lösung der Aufgabe in die Hand nahm? oder hat er nur die uns vorliegende spätere Redaktion ver- anlaßt? Weiter: welche Stelle und Bedeutung hat die ars litteraria in dem Zusammenklang der universalen Spekulationen des großen Künstler-Gelehrten? ... Alle diese Fragen müssen offen bleiben, bis der literarische Nachlaß Lionardos vollständig zusammenge- bracht und durch den Druck zugänglich gemacht sein wird. Mit aller Zuversicht aber getraue ich mir schon jetzt anzugeben, und das ist schließlich das Wichtigste, auf welchem Wege Lionardo zu den Normen seiner Letternkonstruktion gekommen ist. Durch Vitruv. Und zwar durch die beiden Sätze im ersten Kapitel des dritten Buches: daß der Körper des Menschen seiner Länge nach in zehn Teile zerlegt werden kann, wofür die Einheit in der Gesichtslänge vom Kinn bis zum Haaransatz zu finden sei; sodann daß die mensch- liche Gestalt, mit ausgespreiteten Armen und Beinen gedacht, sowohl in einen Kreis als in ein Quadrat sich einschreiben lasse; dem Gliederungsgesetze der menschlichen Gestalt aber sollen die Maßverhältnisse eines Bauwerkes entsprechen (namque non potest aedes ulla sine symmetria atque proportione rationem habere compositionis, nisi ut ad hominis bene figurati membrorum habuerit exactam rationem). — Diese Analogie einmal anerkannt — und man weiß, wie sehr sie den italienischen Theoretikern, von L. B. Alberti ab, behagt hat — war es für Lionardo ein durch- aus angemessener Gedanke, die Figuration der Buchstaben dem- selben Gesetze zu unterstellen, in dem richtigen Gefühle, daß Schreib- kunst und Baukunst von Grund aus Verwandte seien. Abgesehen von der schlagenden Übereinstimmung der angewandten Prin- zipien, wissen wir durch Luca Pacioli, daß Lionardo sich ernstlich Dehio, Kunsthistorische Aufsätze 14

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/261>, abgerufen am 24.11.2024.