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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
und wir stehen somit unausweichlich vor der Alternative: eines
von den beiden Bildern muß eine ohne Zutun Raphaels zustande-
gekommene Kopie sein.

Leider befindet sich das zweite Exemplar in kaum minder
verderbtem Zustande wie das erste. Bei der Untersuchung der
Originalität kann es sich also auch hier nur um die Komposition,
nicht um die Ausführung handeln.

Der Putto der Akademie gehörte ursprünglich, mit einem zweiten
Genossen, zu einem gemalten Wappenschilde des Papstes Julius II.
in einem Zimmer des vatikanischen Palastes, von dessen Wand beide
gelegentlich baulicher Veränderungen im vorigen Jahrhundert
abgesägt wurden. Der andere kam nach England und ist in diesem
schon für so viele Kunstschätze verderblich gewordenen Abgrunde
verschwunden; wahrscheinlich wird er mit dem Putto rechts
auf dem Jesaiasbilde in gleicher Weise übereingestimmt haben,
wie sein Partner mit dem linken1). Man sieht also: bei völlig gleicher
Körperbildung und Haltung ist die den Zwillingsbrüdern zuge-
wiesene körperliche Funktion nicht ebenso die gleiche: das einemal
dient der erhobene linke Arm zur lässig-bequemen Anlehnung an
den auf dem Boden feststehend gedachten Wappenschild, das
anderemal hält er die Inschrifttafel schwebend über dem Haupte
des Propheten (vgl. die beistehende Abbildung). Da somit Last und
Widerstand in beiden Fällen ganz verschieden verteilt sind kann
das Bewegungsmotiv nur in einem von ihnen richtig und natür-
lich dargestellt sein. Niemand, denke ich, wird dem Exemplar
der Akademie diesen Vorzug einzuräumen zögern.

Und damit wäre eigentlich auch schon die Ursprünglichkeits-
frage entschieden.

Indessen wollen wir nicht unterlassen, uns nach weiteren Kon-
trollmitteln umzusehen, und versuchen zuerst die chronologischen.

und derselbe fliegende Engel kehrt auf diesen jedesmal wieder; aber auf 1
hat man ihn längst als Zusatz einer späteren Hand nachgewiesen, und bei
2 teilt neuerdings Robinson mit Recht die ganze Komposition einem Schüler
zu, so daß Raphael selbst allein für 3 verantwortlich ist.
1) Die von Passavant zitierten älteren Beschreibungen von Taja,
Descrizione del palazzo Apost. Vatic. 1750 und von Richardson, Traite de
la peinture stehen mir leider nicht zu Gebote.

Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
und wir stehen somit unausweichlich vor der Alternative: eines
von den beiden Bildern muß eine ohne Zutun Raphaels zustande-
gekommene Kopie sein.

Leider befindet sich das zweite Exemplar in kaum minder
verderbtem Zustande wie das erste. Bei der Untersuchung der
Originalität kann es sich also auch hier nur um die Komposition,
nicht um die Ausführung handeln.

Der Putto der Akademie gehörte ursprünglich, mit einem zweiten
Genossen, zu einem gemalten Wappenschilde des Papstes Julius II.
in einem Zimmer des vatikanischen Palastes, von dessen Wand beide
gelegentlich baulicher Veränderungen im vorigen Jahrhundert
abgesägt wurden. Der andere kam nach England und ist in diesem
schon für so viele Kunstschätze verderblich gewordenen Abgrunde
verschwunden; wahrscheinlich wird er mit dem Putto rechts
auf dem Jesaiasbilde in gleicher Weise übereingestimmt haben,
wie sein Partner mit dem linken1). Man sieht also: bei völlig gleicher
Körperbildung und Haltung ist die den Zwillingsbrüdern zuge-
wiesene körperliche Funktion nicht ebenso die gleiche: das einemal
dient der erhobene linke Arm zur lässig-bequemen Anlehnung an
den auf dem Boden feststehend gedachten Wappenschild, das
anderemal hält er die Inschrifttafel schwebend über dem Haupte
des Propheten (vgl. die beistehende Abbildung). Da somit Last und
Widerstand in beiden Fällen ganz verschieden verteilt sind kann
das Bewegungsmotiv nur in einem von ihnen richtig und natür-
lich dargestellt sein. Niemand, denke ich, wird dem Exemplar
der Akademie diesen Vorzug einzuräumen zögern.

Und damit wäre eigentlich auch schon die Ursprünglichkeits-
frage entschieden.

Indessen wollen wir nicht unterlassen, uns nach weiteren Kon-
trollmitteln umzusehen, und versuchen zuerst die chronologischen.

und derselbe fliegende Engel kehrt auf diesen jedesmal wieder; aber auf 1
hat man ihn längst als Zusatz einer späteren Hand nachgewiesen, und bei
2 teilt neuerdings Robinson mit Recht die ganze Komposition einem Schüler
zu, so daß Raphael selbst allein für 3 verantwortlich ist.
1) Die von Passavant zitierten älteren Beschreibungen von Taja,
Descrizione del palazzo Apost. Vatic. 1750 und von Richardson, Traité de
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[216/0268] Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo und wir stehen somit unausweichlich vor der Alternative: eines von den beiden Bildern muß eine ohne Zutun Raphaels zustande- gekommene Kopie sein. Leider befindet sich das zweite Exemplar in kaum minder verderbtem Zustande wie das erste. Bei der Untersuchung der Originalität kann es sich also auch hier nur um die Komposition, nicht um die Ausführung handeln. Der Putto der Akademie gehörte ursprünglich, mit einem zweiten Genossen, zu einem gemalten Wappenschilde des Papstes Julius II. in einem Zimmer des vatikanischen Palastes, von dessen Wand beide gelegentlich baulicher Veränderungen im vorigen Jahrhundert abgesägt wurden. Der andere kam nach England und ist in diesem schon für so viele Kunstschätze verderblich gewordenen Abgrunde verschwunden; wahrscheinlich wird er mit dem Putto rechts auf dem Jesaiasbilde in gleicher Weise übereingestimmt haben, wie sein Partner mit dem linken 1). Man sieht also: bei völlig gleicher Körperbildung und Haltung ist die den Zwillingsbrüdern zuge- wiesene körperliche Funktion nicht ebenso die gleiche: das einemal dient der erhobene linke Arm zur lässig-bequemen Anlehnung an den auf dem Boden feststehend gedachten Wappenschild, das anderemal hält er die Inschrifttafel schwebend über dem Haupte des Propheten (vgl. die beistehende Abbildung). Da somit Last und Widerstand in beiden Fällen ganz verschieden verteilt sind kann das Bewegungsmotiv nur in einem von ihnen richtig und natür- lich dargestellt sein. Niemand, denke ich, wird dem Exemplar der Akademie diesen Vorzug einzuräumen zögern. Und damit wäre eigentlich auch schon die Ursprünglichkeits- frage entschieden. Indessen wollen wir nicht unterlassen, uns nach weiteren Kon- trollmitteln umzusehen, und versuchen zuerst die chronologischen. 1) 1) Die von Passavant zitierten älteren Beschreibungen von Taja, Descrizione del palazzo Apost. Vatic. 1750 und von Richardson, Traité de la peinture stehen mir leider nicht zu Gebote. 1) und derselbe fliegende Engel kehrt auf diesen jedesmal wieder; aber auf 1 hat man ihn längst als Zusatz einer späteren Hand nachgewiesen, und bei 2 teilt neuerdings Robinson mit Recht die ganze Komposition einem Schüler zu, so daß Raphael selbst allein für 3 verantwortlich ist.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/268>, abgerufen am 24.11.2024.