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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
durch ihre Abzeichen kenntlich genug, geordneten Toten und oben
der gruppenhaft sich auftürmenden vulkanischen Krater.

Endlich, indem die himmlischen Heerscharen erscheinen:
(635--637) Sie kommen gleißnerisch, die Laffen!
So haben sie uns manchen weggeschnappt --
Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen.

Der Gründlichkeit zuliebe wollen wir die Zwischenfrage nicht
unerörtert lassen, ob Goethe die Auffassung der vom Leichnam
getrennten Seele als nackten Kindes etwa noch aus anderen Bei-
spielen gekannt haben mag? Denn es ist eine uralte, der Volks-
phantasie offenbar tief eingegrabene, aus der Antike auf die
christliche Kunst unversehrt übergegangene Vorstellung. In
betreff der letztern muß aber gleich die Beschränkung konstatiert
werden, daß das Motiv mehr dem frühern als dem spätern Mittel-
alter, mehr der romanischen als der germanischen Region geläufig
war. Zudem handelt es sich meist um entlegene und unschein-
bare, zu Goethes Zeit noch völlig unbeachtete Denkmäler. Ich
wüßte nur eines, als in Goethes Gesichtskreis liegend, zu nennen:
das Relief über dem Südportal des Straßburger Münsters, wo die
Seele der sterbenden Maria in dieser Gestalt von Christus in die
Arme genommen wird; wobei mir jedoch mehr wie zweifelhaft ist,
ob der junge Goethe die richtige Deutung schon gefunden, ja über-
haupt nur um sie sich bemüht haben wird. Für uns handelt es
sich überdies um eine andere Wendung: die Entführung der Seele
durch Engel oder Teufel und den Kampf um sie. E. Dobbert hat
in der zitierten Abhandlung (S. 17) eine Anzahl von Parallel-
beispielen aufgeführt, welche jedoch sämtlich Bilderhandschriften,
byzantinischen und französischen, angehören; einige andere habe
ich auf französischen Skulpturwerken des 12. und 13. Jahrhunderts
bemerkt: sämtlich also Beispiele, die Goethe sicher nicht ge-
kannt hat. So darf mit hoher Wahrscheinlichkeit die oben ge-
stellte Frage mit nein beantwortet werden.

In welchem Maße das Pisaner Fresko, nicht nur in drastischen
Einzelheiten, sondern auch in der Anordnung des Ganzen, die
Phantasie des Dichters erfüllte, zeigen besonders schlagend die
Bühnenweisungen "Glorie von oben, rechts" und vorher "der

15*

Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
durch ihre Abzeichen kenntlich genug, geordneten Toten und oben
der gruppenhaft sich auftürmenden vulkanischen Krater.

Endlich, indem die himmlischen Heerscharen erscheinen:
(635—637) Sie kommen gleißnerisch, die Laffen!
So haben sie uns manchen weggeschnappt —
Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen.

Der Gründlichkeit zuliebe wollen wir die Zwischenfrage nicht
unerörtert lassen, ob Goethe die Auffassung der vom Leichnam
getrennten Seele als nackten Kindes etwa noch aus anderen Bei-
spielen gekannt haben mag? Denn es ist eine uralte, der Volks-
phantasie offenbar tief eingegrabene, aus der Antike auf die
christliche Kunst unversehrt übergegangene Vorstellung. In
betreff der letztern muß aber gleich die Beschränkung konstatiert
werden, daß das Motiv mehr dem frühern als dem spätern Mittel-
alter, mehr der romanischen als der germanischen Region geläufig
war. Zudem handelt es sich meist um entlegene und unschein-
bare, zu Goethes Zeit noch völlig unbeachtete Denkmäler. Ich
wüßte nur eines, als in Goethes Gesichtskreis liegend, zu nennen:
das Relief über dem Südportal des Straßburger Münsters, wo die
Seele der sterbenden Maria in dieser Gestalt von Christus in die
Arme genommen wird; wobei mir jedoch mehr wie zweifelhaft ist,
ob der junge Goethe die richtige Deutung schon gefunden, ja über-
haupt nur um sie sich bemüht haben wird. Für uns handelt es
sich überdies um eine andere Wendung: die Entführung der Seele
durch Engel oder Teufel und den Kampf um sie. E. Dobbert hat
in der zitierten Abhandlung (S. 17) eine Anzahl von Parallel-
beispielen aufgeführt, welche jedoch sämtlich Bilderhandschriften,
byzantinischen und französischen, angehören; einige andere habe
ich auf französischen Skulpturwerken des 12. und 13. Jahrhunderts
bemerkt: sämtlich also Beispiele, die Goethe sicher nicht ge-
kannt hat. So darf mit hoher Wahrscheinlichkeit die oben ge-
stellte Frage mit nein beantwortet werden.

In welchem Maße das Pisaner Fresko, nicht nur in drastischen
Einzelheiten, sondern auch in der Anordnung des Ganzen, die
Phantasie des Dichters erfüllte, zeigen besonders schlagend die
Bühnenweisungen »Glorie von oben, rechts« und vorher »der

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[227/0283] Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust durch ihre Abzeichen kenntlich genug, geordneten Toten und oben der gruppenhaft sich auftürmenden vulkanischen Krater. Endlich, indem die himmlischen Heerscharen erscheinen: (635—637) Sie kommen gleißnerisch, die Laffen! So haben sie uns manchen weggeschnappt — Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen. Der Gründlichkeit zuliebe wollen wir die Zwischenfrage nicht unerörtert lassen, ob Goethe die Auffassung der vom Leichnam getrennten Seele als nackten Kindes etwa noch aus anderen Bei- spielen gekannt haben mag? Denn es ist eine uralte, der Volks- phantasie offenbar tief eingegrabene, aus der Antike auf die christliche Kunst unversehrt übergegangene Vorstellung. In betreff der letztern muß aber gleich die Beschränkung konstatiert werden, daß das Motiv mehr dem frühern als dem spätern Mittel- alter, mehr der romanischen als der germanischen Region geläufig war. Zudem handelt es sich meist um entlegene und unschein- bare, zu Goethes Zeit noch völlig unbeachtete Denkmäler. Ich wüßte nur eines, als in Goethes Gesichtskreis liegend, zu nennen: das Relief über dem Südportal des Straßburger Münsters, wo die Seele der sterbenden Maria in dieser Gestalt von Christus in die Arme genommen wird; wobei mir jedoch mehr wie zweifelhaft ist, ob der junge Goethe die richtige Deutung schon gefunden, ja über- haupt nur um sie sich bemüht haben wird. Für uns handelt es sich überdies um eine andere Wendung: die Entführung der Seele durch Engel oder Teufel und den Kampf um sie. E. Dobbert hat in der zitierten Abhandlung (S. 17) eine Anzahl von Parallel- beispielen aufgeführt, welche jedoch sämtlich Bilderhandschriften, byzantinischen und französischen, angehören; einige andere habe ich auf französischen Skulpturwerken des 12. und 13. Jahrhunderts bemerkt: sämtlich also Beispiele, die Goethe sicher nicht ge- kannt hat. So darf mit hoher Wahrscheinlichkeit die oben ge- stellte Frage mit nein beantwortet werden. In welchem Maße das Pisaner Fresko, nicht nur in drastischen Einzelheiten, sondern auch in der Anordnung des Ganzen, die Phantasie des Dichters erfüllte, zeigen besonders schlagend die Bühnenweisungen »Glorie von oben, rechts« und vorher »der 15*

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/283>, abgerufen am 24.11.2024.