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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
geben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben
geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinn-
lichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen
hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Inten-
tionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen
Figuren
und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form
und Festigkeit gegeben hätte." Ich zweifle jetzt nicht, daß, wo
nicht allein, so doch ganz an erster Stelle die Camposantobilder in
diesem nur halb verschleierten Bekenntnis gemeint sind. Es ist der
plastische Sinn und ist der historische Sinn in Goethe, die es ihm
beide gleich sehr verwehrten, Himmel und Hölle nach Klop-
stockscher Art sich zurecht zu phantasieren: er wollte sie zuvor
gesehen haben, so wie sie im Geist und Glauben der Menschen
des Mittelalters Wirklichkeiten waren.

Zum andern lesen wir in den "Annalen" zum Schluß des
Jahres 1818: "Das Kupferwerk vom Campo Santo in Pisa erneute
das Studium jener älteren Epoche." "Das" Kupferwerk vom
Campo Santo kann nur das Lasiniosche sein, ein anderes gibt es
nicht. Das auf dem Titelblatt vermerkte Erscheinungsjahr 1822
bringt kein Hindernis, da das umfangreiche Werk, gleich den
meisten seiner Art, lieferungsweise auf Subskription erschienen
sein wird und die in Frage kommenden Tafeln näher zum Anfang
stehen. Wie ist aber bei Goethe die Wendung "erneute das
Studium jener älteren Epoche" zu verstehen? Meint er jene
Kunstepoche im allgemeinen oder hat er speziell die Camposanto-
bilder schon früher einmal studiert? Für die Deutung im letzteren
Sinne fehlt, soviel ich sehe, jede bestimmtere Unterlage. Daß
Goethe Pisa besucht habe, ist nicht bekannt; daß jemand, etwa
Meyer, ihm Kopien zugebracht, nicht recht wahrscheinlich, denn
Stichreproduktionen nach dem "Trionfo" gab es vor Lasinio
keine1). Nicht Meyer, sondern Boisseree und die Romantiker haben
Goethe der während der italienischen Reise noch so schroff ab-
gelehnten Kunst des Mittelalters näher gebracht. Es würde ge-
nügen, bei "erneute" an die Jahre 1814--1815 zu denken. Sodann

1) Bei Morrona, Pisa illustrata, 2. A. Livorno 1812 (I. A. 1786?), ist
allein die Hölle abgebildet.

Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
geben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben
geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinn-
lichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen
hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Inten-
tionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen
Figuren
und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form
und Festigkeit gegeben hätte.« Ich zweifle jetzt nicht, daß, wo
nicht allein, so doch ganz an erster Stelle die Camposantobilder in
diesem nur halb verschleierten Bekenntnis gemeint sind. Es ist der
plastische Sinn und ist der historische Sinn in Goethe, die es ihm
beide gleich sehr verwehrten, Himmel und Hölle nach Klop-
stockscher Art sich zurecht zu phantasieren: er wollte sie zuvor
gesehen haben, so wie sie im Geist und Glauben der Menschen
des Mittelalters Wirklichkeiten waren.

Zum andern lesen wir in den »Annalen« zum Schluß des
Jahres 1818: »Das Kupferwerk vom Campo Santo in Pisa erneute
das Studium jener älteren Epoche.« »Das« Kupferwerk vom
Campo Santo kann nur das Lasiniosche sein, ein anderes gibt es
nicht. Das auf dem Titelblatt vermerkte Erscheinungsjahr 1822
bringt kein Hindernis, da das umfangreiche Werk, gleich den
meisten seiner Art, lieferungsweise auf Subskription erschienen
sein wird und die in Frage kommenden Tafeln näher zum Anfang
stehen. Wie ist aber bei Goethe die Wendung »erneute das
Studium jener älteren Epoche« zu verstehen? Meint er jene
Kunstepoche im allgemeinen oder hat er speziell die Camposanto-
bilder schon früher einmal studiert? Für die Deutung im letzteren
Sinne fehlt, soviel ich sehe, jede bestimmtere Unterlage. Daß
Goethe Pisa besucht habe, ist nicht bekannt; daß jemand, etwa
Meyer, ihm Kopien zugebracht, nicht recht wahrscheinlich, denn
Stichreproduktionen nach dem »Trionfo« gab es vor Lasinio
keine1). Nicht Meyer, sondern Boisserée und die Romantiker haben
Goethe der während der italienischen Reise noch so schroff ab-
gelehnten Kunst des Mittelalters näher gebracht. Es würde ge-
nügen, bei »erneute« an die Jahre 1814—1815 zu denken. Sodann

1) Bei Morrona, Pisa illustrata, 2. A. Livorno 1812 (I. A. 1786?), ist
allein die Hölle abgebildet.
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[233/0289] Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust geben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war, und daß ich bei so übersinn- lichen, kaum zu ahnenden Dingen mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Inten- tionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.« Ich zweifle jetzt nicht, daß, wo nicht allein, so doch ganz an erster Stelle die Camposantobilder in diesem nur halb verschleierten Bekenntnis gemeint sind. Es ist der plastische Sinn und ist der historische Sinn in Goethe, die es ihm beide gleich sehr verwehrten, Himmel und Hölle nach Klop- stockscher Art sich zurecht zu phantasieren: er wollte sie zuvor gesehen haben, so wie sie im Geist und Glauben der Menschen des Mittelalters Wirklichkeiten waren. Zum andern lesen wir in den »Annalen« zum Schluß des Jahres 1818: »Das Kupferwerk vom Campo Santo in Pisa erneute das Studium jener älteren Epoche.« »Das« Kupferwerk vom Campo Santo kann nur das Lasiniosche sein, ein anderes gibt es nicht. Das auf dem Titelblatt vermerkte Erscheinungsjahr 1822 bringt kein Hindernis, da das umfangreiche Werk, gleich den meisten seiner Art, lieferungsweise auf Subskription erschienen sein wird und die in Frage kommenden Tafeln näher zum Anfang stehen. Wie ist aber bei Goethe die Wendung »erneute das Studium jener älteren Epoche« zu verstehen? Meint er jene Kunstepoche im allgemeinen oder hat er speziell die Camposanto- bilder schon früher einmal studiert? Für die Deutung im letzteren Sinne fehlt, soviel ich sehe, jede bestimmtere Unterlage. Daß Goethe Pisa besucht habe, ist nicht bekannt; daß jemand, etwa Meyer, ihm Kopien zugebracht, nicht recht wahrscheinlich, denn Stichreproduktionen nach dem »Trionfo« gab es vor Lasinio keine 1). Nicht Meyer, sondern Boisserée und die Romantiker haben Goethe der während der italienischen Reise noch so schroff ab- gelehnten Kunst des Mittelalters näher gebracht. Es würde ge- nügen, bei »erneute« an die Jahre 1814—1815 zu denken. Sodann 1) Bei Morrona, Pisa illustrata, 2. A. Livorno 1812 (I. A. 1786?), ist allein die Hölle abgebildet.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/289>, abgerufen am 24.11.2024.