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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
kästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker
und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde
nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kom-
positionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahr-
hundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer
Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeo-
bachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und
rheinische Werkstätten). Im Laufe des 11. Jahrhunderts stirbt
dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt
vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben.

Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der
Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an
den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguß. Solcher
Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren
zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst.
Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und
Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an
italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im
großen; der Einzelausdruck mußte selbständig gefunden werden.
Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür,
was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem
Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in
die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht,
aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich
verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht ge-
winnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im säch-
sischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutsch-
lands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12.,
ohne daß ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das
Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten
kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer
geläufigeren Bronzeguß oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem
Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden
der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungs-
gruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte
es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.

Die Kunst des Mittelalters
kästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker
und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde
nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kom-
positionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahr-
hundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer
Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeo-
bachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und
rheinische Werkstätten). Im Laufe des 11. Jahrhunderts stirbt
dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt
vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben.

Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der
Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an
den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguß. Solcher
Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren
zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst.
Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und
Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an
italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im
großen; der Einzelausdruck mußte selbständig gefunden werden.
Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür,
was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem
Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in
die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht,
aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich
verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht ge-
winnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im säch-
sischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutsch-
lands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12.,
ohne daß ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das
Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten
kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer
geläufigeren Bronzeguß oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem
Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden
der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungs-
gruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte
es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.

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[42/0056] Die Kunst des Mittelalters kästchen. Zu ihrer Schulung stand ein reicher Vorrat spätantiker und byzantinischer Musterstücke zur Verfügung. Doch es wurde nicht bloß kopiert, wir begegnen auch selbsterfundenen Kom- positionen (z. B. in einer Reihe von Diptychen, die im 9. Jahr- hundert in Metz oder Reims entstanden sind), ja sogar einer Formenauffassung, die das überlieferte Schema durch Naturbeo- bachtung zu ergänzen und zu beleben wagte (sächsische und rheinische Werkstätten). Im Laufe des 11. Jahrhunderts stirbt dieser Kunstzweig ab, um auf veränderten Grundlagen im 13., jetzt vornehmlich in Frankreich, eine zweite Blüte zu erleben. Wollte man eine Stufe höher hinauf gehen und auch der Architektur plastischen Schmuck geben, so wandte man sich an den den Germanen sehr früh vertraut gewordenen Erzguß. Solcher Art sind aus dem Anfang des 11. Jahrhunderts die großen Domtüren zu Augsburg und Hildesheim und die sog. Bernwardsäule daselbst. Monumental sind sie nur durch ihre Funktion; nach Stil und Technik gehören sie völlig der Kleinkunst. Die Erinnerungen an italienische Vorbilder erstrecken sich nur auf die Anordnung im großen; der Einzelausdruck mußte selbständig gefunden werden. Die Hildesheimer Tür zumal ist ein denkwürdiges Beispiel dafür, was entstehen konnte, wenn ein begabter Künstler von energischem Unabhängigkeitssinn sich voraussetzungslos dem Naturalismus in die Arme warf: in der Stärke des Ausdrucks ist er unerreicht, aber die Herrschaft über Form und Komposition hat er gänzlich verloren. Mit so keckem Sturmlauf ließ sich das Ziel nicht ge- winnen. Das Interesse an plastischen Aufgaben blieb im säch- sischen Stammgebiet lebendig, mehr als in anderen Teilen Deutsch- lands, aber das 11. Jahrhundert verging und ein großer Teil des 12., ohne daß ein nennenswerter Fortschritt gemacht wurde. Nur das Programm erweiterte sich: Grabplatten mit lebensgroßen Gestalten kamen in Aufnahme, nicht in Stein, sondern in dem noch immer geläufigeren Bronzeguß oder in fügsamer Stuckmasse; in gleichem Material dekorative Figuren an den Zwickeln zwischen den Arkaden der Kirchenschiffe oder an Chorschranken; kolossale Kreuzigungs- gruppen aus Holz. Man sieht, an monumentalen Aufgaben fehlte es nicht mehr, wohl aber noch immer an einem monumentalen Stil.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/56>, abgerufen am 23.11.2024.