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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maß-
stabe Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des
Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren
der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form
der heiligen Bilderfülle zu ihrem Rechte verhelfen. So blieb es
nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren auf-
nehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens,
außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vor-
handen waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der
Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon,
20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse
bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen
die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu
alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein deko-
rativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die
Berechnung, daß die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollstän-
digen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben,
ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen
Kunst ein so unermeßliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals
ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wich-
tigsten derselben ist der "Blockzwang", d. h. jede Gestalt muß
in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen
bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen
den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen
Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders aus-
gedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein.
Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen
in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es
forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste
Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war
vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer?
Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser
Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungs-
motive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu
arbeiten -- das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäu-
des -- wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.

Die Kunst des Mittelalters
einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maß-
stabe Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des
Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren
der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form
der heiligen Bilderfülle zu ihrem Rechte verhelfen. So blieb es
nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren auf-
nehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens,
außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vor-
handen waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der
Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon,
20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse
bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen
die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu
alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein deko-
rativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die
Berechnung, daß die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollstän-
digen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben,
ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen
Kunst ein so unermeßliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals
ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wich-
tigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muß
in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen
bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen
den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen
Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders aus-
gedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein.
Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen
in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es
forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste
Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war
vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer?
Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser
Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungs-
motive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu
arbeiten — das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäu-
des — wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.

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[44/0058] Die Kunst des Mittelalters einem Dekorationsmittel aus, von dem sie in kolossalstem Maß- stabe Gebrauch macht. Sie war das auch den Interessen des Kultus schuldig; denn nachdem sie die Malerei aus dem Inneren der Kirchen verdrängt hatte, konnte sie nur noch in dieser Form der heiligen Bilderfülle zu ihrem Rechte verhelfen. So blieb es nicht bei den Portalen, obschon ein einziges an 200 Figuren auf- nehmen konnte (z. B. am mittleren der drei Westportale in Amiens, außer denen noch ähnlich reich behandelte Querschiffportale vor- handen waren: 14 Freistatuen am Gewände, 88 Statuetten in der Bogenleibung, 4 stark gefüllte Reliefstreifen im Tympanon, 20 Sockelreliefs), auch die Galerien der oberen Fassadengeschosse bevölkerten sich mit langen Reihen von Standbildern, desgleichen die Tabernakel der Strebepfeiler, die Spitzen der Fialen und zu alledem noch ein gar nicht mehr zu zählendes Heer rein deko- rativer Figuren an Kragsteinen, Wasserspeiern u. dgl. m. Die Berechnung, daß die ganz großen Kathedralen zu ihrer vollstän- digen Ausrüstung 2000 Bildwerke und mehr gebraucht haben, ist kaum übertrieben. Niemals hat ein Baustil der plastischen Kunst ein so unermeßliches Feld der Tätigkeit geöffnet, niemals ihr zugleich so drückende Bedingungen auferlegt. Eine der wich- tigsten derselben ist der »Blockzwang«, d. h. jede Gestalt muß in den von der Architektur ihr bestimmten Block eingeschlossen bleiben, es müssen die Verbindungslinien, die das Auge zwischen den äußersten Ausladungen der Figur herstellt, die ursprünglichen Grenzflächen der Rohform wiedererkennen lassen. Anders aus- gedrückt: auch die Freistatue hört niemals ganz auf, Säule zu sein. Gegenüber den Gefahren bei Zusammenpressung des Unendlichvielen in engem Raum, wie das kirchlich-ikonographische Programm es forderte, gewährleistete dieses Prinzip auch für die verwickeltste Komposition Klarheit und Ruhe des Aufbaus. Die Architektur war vor Störung sicher. Aber in welcher Lage befand sich der Bildhauer? Welche Schmiegsamkeit der Erfindung war nötig, um in dieser Einschnürung ungezwungene und abwechslungsreiche Bewegungs- motive zu erreichen! Und welche Entsagung, um für Standorte zu arbeiten — das gilt für alles Bildwerk an den oberen Teilen des Gebäu- des — wo nie eine andere als summarische Betrachtung möglich ist.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/58>, abgerufen am 23.11.2024.