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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
Teilung, wie die Frauenkirche in Nürnberg, übermäßig steile
Querschnittprofile, wie in St. Martin zu Landshut, und breit-
gequetschte, wie in der Stiftskirche zu Stuttgart, und andere
Zeugnisse eines schwankenden Raumgefühles mehr. Sodann die
von Haenel gerühmte Einheitlichkeit des Grundrisses, d. i. Mangel
eines Querschiffes und einfache Gestaltung des Chors, hätte doch
nur etwas zu bedeuten, wenn sie etwas Neues wäre; allein sie war
in Süddeutschland von jeher zu Haus und in Norddeutschland
wenigstens an den Hallenkirchen die Regel. Den Gipfel der Einfach-
heit in der Grundrißdisposition hatte aber schon lange vorher
die Kathedrale von Poitiers erreicht. Hätten Schmarsow und
Haenel, wie sich ziemte, diese historischen Maßstäbe in die Hand
genommen, dann wären sie vor dem Irrtum bewahrt geblieben,
von der Gmündner Kreuzkirche den Eintritt einer neuen Ära,
den Eintritt der Frührenaissance, zu datieren. Aber auch ohne
Vergleichungen, allein aus den ihnen vorliegenden Denkmälern,
hätten sie merken müssen, daß der Sinn für einheitliche Raum-
gestaltung in der Spätgotik geradezu im Rückgang war. Ich
nenne zum Beweis zwei häufig vorkommende Eigentümlichkeiten.
Nach der einen wird die Decke, die nach Maßgabe der Raumidee
in gleicher Höhenlage bleiben müßte, beim Eintritt in den Chor
geknickt, d. h. in willkürlicher Weise bald höher, bald tiefer gelegt
als im Schiff (Beispiel die Kreuzkirche in Gmünd), nach der anderen
erhält das Mittelschiff eine Überhöhung im Sinne des Quer-
schnittes, woraus eine schlaffe Zwitterbildung zwischen Hallen-
und Basilikenanlage entsteht (Beispiel: die Frauenkirche in Ingol-
stadt); ferner die Verbindung eines basilikalen Langhauses mit
einem hallenmäßigen Chor (Beispiele: St. Sebald und S. Lorenz
in Nürnberg); es können damit anziehende malerische Wirkungen
erzielt werden, aber es ist ein Hohn auf die einfachsten Prinzipien
der Raumkunst. Dasselbe gilt von Ulrichs von Ensingen Plan
für das Ulmer Münster; ursprünglich als Hallenkirche gedacht,
wurde es zur Basilika umgebaut, aber so, daß die Seitenschiffe
sich bis zur gleichen Breite mit dem Mittelschiff erweiterten,
in völliger Verkennung des der Basilika eigentümlichen räumlichen
Rhythmus. Noch später wurden die Seitenschiffe geteilt, so daß

Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
Teilung, wie die Frauenkirche in Nürnberg, übermäßig steile
Querschnittprofile, wie in St. Martin zu Landshut, und breit-
gequetschte, wie in der Stiftskirche zu Stuttgart, und andere
Zeugnisse eines schwankenden Raumgefühles mehr. Sodann die
von Haenel gerühmte Einheitlichkeit des Grundrisses, d. i. Mangel
eines Querschiffes und einfache Gestaltung des Chors, hätte doch
nur etwas zu bedeuten, wenn sie etwas Neues wäre; allein sie war
in Süddeutschland von jeher zu Haus und in Norddeutschland
wenigstens an den Hallenkirchen die Regel. Den Gipfel der Einfach-
heit in der Grundrißdisposition hatte aber schon lange vorher
die Kathedrale von Poitiers erreicht. Hätten Schmarsow und
Haenel, wie sich ziemte, diese historischen Maßstäbe in die Hand
genommen, dann wären sie vor dem Irrtum bewahrt geblieben,
von der Gmündner Kreuzkirche den Eintritt einer neuen Ära,
den Eintritt der Frührenaissance, zu datieren. Aber auch ohne
Vergleichungen, allein aus den ihnen vorliegenden Denkmälern,
hätten sie merken müssen, daß der Sinn für einheitliche Raum-
gestaltung in der Spätgotik geradezu im Rückgang war. Ich
nenne zum Beweis zwei häufig vorkommende Eigentümlichkeiten.
Nach der einen wird die Decke, die nach Maßgabe der Raumidee
in gleicher Höhenlage bleiben müßte, beim Eintritt in den Chor
geknickt, d. h. in willkürlicher Weise bald höher, bald tiefer gelegt
als im Schiff (Beispiel die Kreuzkirche in Gmünd), nach der anderen
erhält das Mittelschiff eine Überhöhung im Sinne des Quer-
schnittes, woraus eine schlaffe Zwitterbildung zwischen Hallen-
und Basilikenanlage entsteht (Beispiel: die Frauenkirche in Ingol-
stadt); ferner die Verbindung eines basilikalen Langhauses mit
einem hallenmäßigen Chor (Beispiele: St. Sebald und S. Lorenz
in Nürnberg); es können damit anziehende malerische Wirkungen
erzielt werden, aber es ist ein Hohn auf die einfachsten Prinzipien
der Raumkunst. Dasselbe gilt von Ulrichs von Ensingen Plan
für das Ulmer Münster; ursprünglich als Hallenkirche gedacht,
wurde es zur Basilika umgebaut, aber so, daß die Seitenschiffe
sich bis zur gleichen Breite mit dem Mittelschiff erweiterten,
in völliger Verkennung des der Basilika eigentümlichen räumlichen
Rhythmus. Noch später wurden die Seitenschiffe geteilt, so daß

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[58/0072] Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik Teilung, wie die Frauenkirche in Nürnberg, übermäßig steile Querschnittprofile, wie in St. Martin zu Landshut, und breit- gequetschte, wie in der Stiftskirche zu Stuttgart, und andere Zeugnisse eines schwankenden Raumgefühles mehr. Sodann die von Haenel gerühmte Einheitlichkeit des Grundrisses, d. i. Mangel eines Querschiffes und einfache Gestaltung des Chors, hätte doch nur etwas zu bedeuten, wenn sie etwas Neues wäre; allein sie war in Süddeutschland von jeher zu Haus und in Norddeutschland wenigstens an den Hallenkirchen die Regel. Den Gipfel der Einfach- heit in der Grundrißdisposition hatte aber schon lange vorher die Kathedrale von Poitiers erreicht. Hätten Schmarsow und Haenel, wie sich ziemte, diese historischen Maßstäbe in die Hand genommen, dann wären sie vor dem Irrtum bewahrt geblieben, von der Gmündner Kreuzkirche den Eintritt einer neuen Ära, den Eintritt der Frührenaissance, zu datieren. Aber auch ohne Vergleichungen, allein aus den ihnen vorliegenden Denkmälern, hätten sie merken müssen, daß der Sinn für einheitliche Raum- gestaltung in der Spätgotik geradezu im Rückgang war. Ich nenne zum Beweis zwei häufig vorkommende Eigentümlichkeiten. Nach der einen wird die Decke, die nach Maßgabe der Raumidee in gleicher Höhenlage bleiben müßte, beim Eintritt in den Chor geknickt, d. h. in willkürlicher Weise bald höher, bald tiefer gelegt als im Schiff (Beispiel die Kreuzkirche in Gmünd), nach der anderen erhält das Mittelschiff eine Überhöhung im Sinne des Quer- schnittes, woraus eine schlaffe Zwitterbildung zwischen Hallen- und Basilikenanlage entsteht (Beispiel: die Frauenkirche in Ingol- stadt); ferner die Verbindung eines basilikalen Langhauses mit einem hallenmäßigen Chor (Beispiele: St. Sebald und S. Lorenz in Nürnberg); es können damit anziehende malerische Wirkungen erzielt werden, aber es ist ein Hohn auf die einfachsten Prinzipien der Raumkunst. Dasselbe gilt von Ulrichs von Ensingen Plan für das Ulmer Münster; ursprünglich als Hallenkirche gedacht, wurde es zur Basilika umgebaut, aber so, daß die Seitenschiffe sich bis zur gleichen Breite mit dem Mittelschiff erweiterten, in völliger Verkennung des der Basilika eigentümlichen räumlichen Rhythmus. Noch später wurden die Seitenschiffe geteilt, so daß

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/72>, abgerufen am 23.11.2024.