Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik die Gesamtzahl fünf erreicht wird. -- Wohin man auch blickenmag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche, die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen In- tention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein. Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innen- Wohin sollen wir nun diese "Spätgotik" geschichtlich ein- Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik die Gesamtzahl fünf erreicht wird. — Wohin man auch blickenmag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche, die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen In- tention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein. Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innen- Wohin sollen wir nun diese »Spätgotik« geschichtlich ein- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0073" n="59"/><fw place="top" type="header">Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik</fw><lb/> die Gesamtzahl fünf erreicht wird. — Wohin man auch blicken<lb/> mag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche,<lb/> die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen In-<lb/> tention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein.</p><lb/> <p>Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innen-<lb/> raum in seinen stereometrischen Verhältnissen klar darzulegen,<lb/> ihn fest zu umgrenzen, ihn nach leicht faßbaren und meßbaren<lb/> Proportionen zu gliedern: so ist der spätgotische Raum das Gegen-<lb/> teil davon, eine unbestimmt verschwimmende, geometrisch un-<lb/> definierbare, formlose Masse. Nein, die Spätgotik ist nicht »Raum-<lb/> stil«. Ihr Lebensprinzip liegt in einer ganz anderen ästhetischen<lb/> Kategorie. Es ist die Zusammenfassung der Architekturteile zu<lb/> einer <hi rendition="#g">malerischen</hi> Einheit. Noch mehr: die Architektur an<lb/> sich ist unfertig, sie bedarf der Ergänzung durch die in bekannter<lb/> Massenhaftigkeit in sie hineingestellten künstlerischen Sonder-<lb/> existenzen: die Altäre, Sakramentshäuser, Kanzeln, Lettner,<lb/> Schranken und Chorstühle, Grabmäler usw. Erst durch die opti-<lb/> schen Beziehungen dieser Stücke unter sich und mit dem architek-<lb/> tonischen Hintergrunde wird das gewollte Endergebnis gewonnen:<lb/><hi rendition="#g">das Bild</hi>. Es hat dem Charakter dieser Innenräume wenig,<lb/> oft nichts geschadet, wenn die gotischen Mobilien durch barocke<lb/> ersetzt wurden, aber die nach modernen puristischen Restau-<lb/> rationen zurückbleibende Leere traf ihren Lebensnerv. Die schon<lb/> in der sog. deutschen Renaissance eintretende <choice><sic>Vermischng</sic><corr>Vermischung</corr></choice> der<lb/> Stilformen ist gar keine Inkonsequenz, sie paßt ganz zum Wesen<lb/> dieses nicht in Formen, Konstruktionen oder Raumkategorien,<lb/> sondern in malerischen Bildeindrücken denkenden Stils.</p><lb/> <p>Wohin sollen wir nun diese »Spätgotik« geschichtlich ein-<lb/> ordnen? Mit der Gotik der Kathedrale von Amiens hat sie offen-<lb/> bar, außer in Äußerlichkeiten, nichts zu tun — aber auch nichts<lb/> mit der Renaissance eines Brunellesco und Bramante. Der funda-<lb/> mentale Irrtum bei Schmarsow liegt darin, zu meinen, daß wir<lb/> nur zwischen den zwei Möglichkeiten — <hi rendition="#g">entweder</hi> Ende der<lb/> Gotik, <hi rendition="#g">oder</hi> Anfang der Renaissance — die Wahl hätten. Ich sehe<lb/> in der nordischen Spätgotik ein neues Drittes wirksam. Ich finde,<lb/> daß dieses das Absterben der gotischen Zierformen überlebt, ja erst<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [59/0073]
Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
die Gesamtzahl fünf erreicht wird. — Wohin man auch blicken
mag, von einem einheitlichen Willen der spätgotischen Epoche,
die Raumschönheit in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen In-
tention zu stellen, kann gar nicht die Rede sein.
Wenn die italienische Renaissance darauf ausging, den Innen-
raum in seinen stereometrischen Verhältnissen klar darzulegen,
ihn fest zu umgrenzen, ihn nach leicht faßbaren und meßbaren
Proportionen zu gliedern: so ist der spätgotische Raum das Gegen-
teil davon, eine unbestimmt verschwimmende, geometrisch un-
definierbare, formlose Masse. Nein, die Spätgotik ist nicht »Raum-
stil«. Ihr Lebensprinzip liegt in einer ganz anderen ästhetischen
Kategorie. Es ist die Zusammenfassung der Architekturteile zu
einer malerischen Einheit. Noch mehr: die Architektur an
sich ist unfertig, sie bedarf der Ergänzung durch die in bekannter
Massenhaftigkeit in sie hineingestellten künstlerischen Sonder-
existenzen: die Altäre, Sakramentshäuser, Kanzeln, Lettner,
Schranken und Chorstühle, Grabmäler usw. Erst durch die opti-
schen Beziehungen dieser Stücke unter sich und mit dem architek-
tonischen Hintergrunde wird das gewollte Endergebnis gewonnen:
das Bild. Es hat dem Charakter dieser Innenräume wenig,
oft nichts geschadet, wenn die gotischen Mobilien durch barocke
ersetzt wurden, aber die nach modernen puristischen Restau-
rationen zurückbleibende Leere traf ihren Lebensnerv. Die schon
in der sog. deutschen Renaissance eintretende Vermischung der
Stilformen ist gar keine Inkonsequenz, sie paßt ganz zum Wesen
dieses nicht in Formen, Konstruktionen oder Raumkategorien,
sondern in malerischen Bildeindrücken denkenden Stils.
Wohin sollen wir nun diese »Spätgotik« geschichtlich ein-
ordnen? Mit der Gotik der Kathedrale von Amiens hat sie offen-
bar, außer in Äußerlichkeiten, nichts zu tun — aber auch nichts
mit der Renaissance eines Brunellesco und Bramante. Der funda-
mentale Irrtum bei Schmarsow liegt darin, zu meinen, daß wir
nur zwischen den zwei Möglichkeiten — entweder Ende der
Gotik, oder Anfang der Renaissance — die Wahl hätten. Ich sehe
in der nordischen Spätgotik ein neues Drittes wirksam. Ich finde,
daß dieses das Absterben der gotischen Zierformen überlebt, ja erst
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