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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Das sind Möglichkeiten, die durchaus im Bereich der Wahrschein-
lichkeiten liegen; immerhin nur Möglichkeiten. Wieviel davon ist
Wirklichkeit geworden? Diese Fragen, ohne daß ich sie jedesmal
laut wiederhole, mögen uns bei der Betrachtung des historischen
Verlaufs begleiten.

Von der römischen Epoche, aus der sich Denkmalüberreste
in ziemlicher Menge, wie Sie wissen, erhalten haben, brauche ich
nicht zu reden. Es führt keine Brücke, lokalgeschichtlich genommen,
von ihr zum Mittelalter hinüber. Eine zweite, weit spätere Ein-
strömung der Antike mußte kommen, um eine keimfähige Aussaat
zu bringen: die in der Kirche organisierte christliche Antike.
Aus ihr entstand im Reiche der Karolinger der sog. romanische
Stil. Denkmäler aus seiner Werdezeit besitzt das Elsaß nicht.
Zu überlegen bleibt, daß wir für die Ankunft fruchtbarer Anregungen
nicht ausschließlich an den westlichen Weg zu denken brauchen.
Literarische Quellen weisen beispielsweise auf nahe Beziehungen
zwischen Murbach, dem wichtigsten Kloster des Oberelsaß, und
dem Bodenseekloster Reichenau, und da ist es auch für die Kloster-
kunst ganz gut möglich, fast wahrscheinlich, daß dieselben
Beziehungen nicht wirkungslos gewesen sein mögen; dieser zweite
Weg aber würde nach Italien hinweisen.

Die durch Denkmäler dokumentierte Kunstgeschichte des
Elsaß beginnt erst diesseits des Jahres 1000.

Das älteste erhaltene Bauwerk romanischen Stils von Belang
in unserem Lande ist die Nonnenklosterkirche Ottmarsheim bei
Mülhausen. Papst Leo IX. vollzog hier eine Weihe, was einen un-
gefähren Anhaltspunkt für die Entstehungszeit gibt. Ottmars-
heim ist ein Zentralbau, im Grundriß achteckig, mit innerem
Umgang und Emporen, durchaus gewölbt, der Mittelraum mit
Kuppel. Die zentrale Anlage ist im Verhältnis zum Zweck un-
gewöhnlich, wenn auch nicht völlig alleinstehend; freilich im
Lande selbst waren sicher keine namhaften Vorbilder gegeben.
Wenn man nach einem solchen suchte, hätte man eines verhältnis-
mäßig nahe in Dijon, in der berühmten Benignuskirche, haben
können. (Dijon ist von Ottmarsheim in der Luftlinie nicht sehr viel
weiter entfernt als Straßburg.) Dieses aber ist nicht benutzt

Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
Das sind Möglichkeiten, die durchaus im Bereich der Wahrschein-
lichkeiten liegen; immerhin nur Möglichkeiten. Wieviel davon ist
Wirklichkeit geworden? Diese Fragen, ohne daß ich sie jedesmal
laut wiederhole, mögen uns bei der Betrachtung des historischen
Verlaufs begleiten.

Von der römischen Epoche, aus der sich Denkmalüberreste
in ziemlicher Menge, wie Sie wissen, erhalten haben, brauche ich
nicht zu reden. Es führt keine Brücke, lokalgeschichtlich genommen,
von ihr zum Mittelalter hinüber. Eine zweite, weit spätere Ein-
strömung der Antike mußte kommen, um eine keimfähige Aussaat
zu bringen: die in der Kirche organisierte christliche Antike.
Aus ihr entstand im Reiche der Karolinger der sog. romanische
Stil. Denkmäler aus seiner Werdezeit besitzt das Elsaß nicht.
Zu überlegen bleibt, daß wir für die Ankunft fruchtbarer Anregungen
nicht ausschließlich an den westlichen Weg zu denken brauchen.
Literarische Quellen weisen beispielsweise auf nahe Beziehungen
zwischen Murbach, dem wichtigsten Kloster des Oberelsaß, und
dem Bodenseekloster Reichenau, und da ist es auch für die Kloster-
kunst ganz gut möglich, fast wahrscheinlich, daß dieselben
Beziehungen nicht wirkungslos gewesen sein mögen; dieser zweite
Weg aber würde nach Italien hinweisen.

Die durch Denkmäler dokumentierte Kunstgeschichte des
Elsaß beginnt erst diesseits des Jahres 1000.

Das älteste erhaltene Bauwerk romanischen Stils von Belang
in unserem Lande ist die Nonnenklosterkirche Ottmarsheim bei
Mülhausen. Papst Leo IX. vollzog hier eine Weihe, was einen un-
gefähren Anhaltspunkt für die Entstehungszeit gibt. Ottmars-
heim ist ein Zentralbau, im Grundriß achteckig, mit innerem
Umgang und Emporen, durchaus gewölbt, der Mittelraum mit
Kuppel. Die zentrale Anlage ist im Verhältnis zum Zweck un-
gewöhnlich, wenn auch nicht völlig alleinstehend; freilich im
Lande selbst waren sicher keine namhaften Vorbilder gegeben.
Wenn man nach einem solchen suchte, hätte man eines verhältnis-
mäßig nahe in Dijon, in der berühmten Benignuskirche, haben
können. (Dijon ist von Ottmarsheim in der Luftlinie nicht sehr viel
weiter entfernt als Straßburg.) Dieses aber ist nicht benutzt

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[78/0092] Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß Das sind Möglichkeiten, die durchaus im Bereich der Wahrschein- lichkeiten liegen; immerhin nur Möglichkeiten. Wieviel davon ist Wirklichkeit geworden? Diese Fragen, ohne daß ich sie jedesmal laut wiederhole, mögen uns bei der Betrachtung des historischen Verlaufs begleiten. Von der römischen Epoche, aus der sich Denkmalüberreste in ziemlicher Menge, wie Sie wissen, erhalten haben, brauche ich nicht zu reden. Es führt keine Brücke, lokalgeschichtlich genommen, von ihr zum Mittelalter hinüber. Eine zweite, weit spätere Ein- strömung der Antike mußte kommen, um eine keimfähige Aussaat zu bringen: die in der Kirche organisierte christliche Antike. Aus ihr entstand im Reiche der Karolinger der sog. romanische Stil. Denkmäler aus seiner Werdezeit besitzt das Elsaß nicht. Zu überlegen bleibt, daß wir für die Ankunft fruchtbarer Anregungen nicht ausschließlich an den westlichen Weg zu denken brauchen. Literarische Quellen weisen beispielsweise auf nahe Beziehungen zwischen Murbach, dem wichtigsten Kloster des Oberelsaß, und dem Bodenseekloster Reichenau, und da ist es auch für die Kloster- kunst ganz gut möglich, fast wahrscheinlich, daß dieselben Beziehungen nicht wirkungslos gewesen sein mögen; dieser zweite Weg aber würde nach Italien hinweisen. Die durch Denkmäler dokumentierte Kunstgeschichte des Elsaß beginnt erst diesseits des Jahres 1000. Das älteste erhaltene Bauwerk romanischen Stils von Belang in unserem Lande ist die Nonnenklosterkirche Ottmarsheim bei Mülhausen. Papst Leo IX. vollzog hier eine Weihe, was einen un- gefähren Anhaltspunkt für die Entstehungszeit gibt. Ottmars- heim ist ein Zentralbau, im Grundriß achteckig, mit innerem Umgang und Emporen, durchaus gewölbt, der Mittelraum mit Kuppel. Die zentrale Anlage ist im Verhältnis zum Zweck un- gewöhnlich, wenn auch nicht völlig alleinstehend; freilich im Lande selbst waren sicher keine namhaften Vorbilder gegeben. Wenn man nach einem solchen suchte, hätte man eines verhältnis- mäßig nahe in Dijon, in der berühmten Benignuskirche, haben können. (Dijon ist von Ottmarsheim in der Luftlinie nicht sehr viel weiter entfernt als Straßburg.) Dieses aber ist nicht benutzt

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/92>, abgerufen am 23.11.2024.