Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

schaft entgangen ist, desto mehr gebührt ihm in herkömmlicher
Bezeichnung der Name eines Gelehrten. Ein Solcher muß
nach einem möglichst erschöpfenden Wissen streben, im guten
Sinne des Wortes ein Viel-, wo möglich (auf seinem Ge-
biete) ein Alleswisser sein.

Den Zweck, solche Gelehrte zu bilden, haben die Univer-
sitäten vorzugsweise nicht. Schon darum nicht, weil
er sich nicht mit Sicherheit erreichen läßt. Zu einem Gelehr-
ten wird man nicht gebildet, sondern man bildet sich selbst
dazu. Die Bestimmung zum Gelehrten muß man sich selbst
geben. Auch hat der Staat oder die Gesellschaft kein unmit-
telbares Interesse daran, ob sich unter den Staatsangehörigen
viele große Gelehrte befinden. Als Solche gehören sie auch
nicht eigentlich dem Staate an, sondern der Menschheit.
Eigentliche Gelehrte leben nicht dem Leben, sondern der Wis-
senschaft, und sie bilden die europäische oder allgemein mensch-
liche (cosmopolitische) Gelehrten-Republik. Ein Gelehrter ist
kein Engländer, Franzose, Deutscher, sondern ein Gelehrter,
kein Staatsdiener, sondern ein Priester der Wissenschaft. Wohl
macht es der Intelligenz eines auf Bildung Anspruch machen-
den Staates Ehre, wenn er auch die Gelehrsamkeit, die Er-
forschung der Wissenschaft fördert und Opfer dafür bringt;
auch fungiren unsre heutigen (großen) Universitäten für diesen
Zweck; aber ihr Hauptzweck ist es nicht. Von 100 Studen-
ten widmen sich in der Regel kaum 5, oft nicht Einer der
eigentlichen Gelehrsamkeit. Aber alle sollen zu gründlich wis-
senschaftlicher Bildung gelangen. Wenn diese nun nicht in
historischer Erschöpfung ihrer Wissenschaft, nicht in gelehrtem
Kram oder Wuste, nicht in der Unendlichkeit des Wissens,
dessen Unfruchtbarkeit fast zum Sprichworte geworden, besteht,
so sage ich positiv:

ſchaft entgangen iſt, deſto mehr gebuͤhrt ihm in herkoͤmmlicher
Bezeichnung der Name eines Gelehrten. Ein Solcher muß
nach einem moͤglichſt erſchoͤpfenden Wiſſen ſtreben, im guten
Sinne des Wortes ein Viel-, wo moͤglich (auf ſeinem Ge-
biete) ein Alleswiſſer ſein.

Den Zweck, ſolche Gelehrte zu bilden, haben die Univer-
ſitaͤten vorzugsweiſe nicht. Schon darum nicht, weil
er ſich nicht mit Sicherheit erreichen laͤßt. Zu einem Gelehr-
ten wird man nicht gebildet, ſondern man bildet ſich ſelbſt
dazu. Die Beſtimmung zum Gelehrten muß man ſich ſelbſt
geben. Auch hat der Staat oder die Geſellſchaft kein unmit-
telbares Intereſſe daran, ob ſich unter den Staatsangehoͤrigen
viele große Gelehrte befinden. Als Solche gehoͤren ſie auch
nicht eigentlich dem Staate an, ſondern der Menſchheit.
Eigentliche Gelehrte leben nicht dem Leben, ſondern der Wiſ-
ſenſchaft, und ſie bilden die europaͤiſche oder allgemein menſch-
liche (cosmopolitiſche) Gelehrten-Republik. Ein Gelehrter iſt
kein Englaͤnder, Franzoſe, Deutſcher, ſondern ein Gelehrter,
kein Staatsdiener, ſondern ein Prieſter der Wiſſenſchaft. Wohl
macht es der Intelligenz eines auf Bildung Anſpruch machen-
den Staates Ehre, wenn er auch die Gelehrſamkeit, die Er-
forſchung der Wiſſenſchaft foͤrdert und Opfer dafuͤr bringt;
auch fungiren unſre heutigen (großen) Univerſitaͤten fuͤr dieſen
Zweck; aber ihr Hauptzweck iſt es nicht. Von 100 Studen-
ten widmen ſich in der Regel kaum 5, oft nicht Einer der
eigentlichen Gelehrſamkeit. Aber alle ſollen zu gruͤndlich wiſ-
ſenſchaftlicher Bildung gelangen. Wenn dieſe nun nicht in
hiſtoriſcher Erſchoͤpfung ihrer Wiſſenſchaft, nicht in gelehrtem
Kram oder Wuſte, nicht in der Unendlichkeit des Wiſſens,
deſſen Unfruchtbarkeit faſt zum Sprichworte geworden, beſteht,
ſo ſage ich poſitiv:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0021" n="3"/>
&#x017F;chaft entgangen i&#x017F;t, de&#x017F;to mehr gebu&#x0364;hrt ihm in herko&#x0364;mmlicher<lb/>
Bezeichnung der Name eines Gelehrten. Ein Solcher muß<lb/>
nach einem mo&#x0364;glich&#x017F;t er&#x017F;cho&#x0364;pfenden Wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;treben, im guten<lb/>
Sinne des Wortes ein Viel-, wo mo&#x0364;glich (auf &#x017F;einem Ge-<lb/>
biete) ein Alleswi&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ein.</p><lb/>
          <p>Den Zweck, &#x017F;olche Gelehrte zu bilden, haben die Univer-<lb/>
&#x017F;ita&#x0364;ten <hi rendition="#g">vorzugswei&#x017F;e nicht</hi>. Schon darum nicht, weil<lb/>
er &#x017F;ich nicht mit Sicherheit erreichen la&#x0364;ßt. Zu einem Gelehr-<lb/>
ten wird man nicht gebildet, &#x017F;ondern man bildet &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
dazu. Die Be&#x017F;timmung zum Gelehrten muß man &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
geben. Auch hat der Staat oder die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft kein unmit-<lb/>
telbares Intere&#x017F;&#x017F;e daran, ob &#x017F;ich unter den Staatsangeho&#x0364;rigen<lb/>
viele große Gelehrte befinden. Als Solche geho&#x0364;ren &#x017F;ie auch<lb/>
nicht eigentlich dem Staate an, &#x017F;ondern der Men&#x017F;chheit.<lb/>
Eigentliche Gelehrte leben nicht dem Leben, &#x017F;ondern der Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaft, und &#x017F;ie bilden die europa&#x0364;i&#x017F;che oder allgemein men&#x017F;ch-<lb/>
liche (cosmopoliti&#x017F;che) Gelehrten-Republik. Ein Gelehrter i&#x017F;t<lb/>
kein Engla&#x0364;nder, Franzo&#x017F;e, Deut&#x017F;cher, &#x017F;ondern ein Gelehrter,<lb/>
kein Staatsdiener, &#x017F;ondern ein Prie&#x017F;ter der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Wohl<lb/>
macht es der Intelligenz eines auf Bildung An&#x017F;pruch machen-<lb/>
den Staates Ehre, wenn er auch die Gelehr&#x017F;amkeit, die Er-<lb/>
for&#x017F;chung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft fo&#x0364;rdert und Opfer dafu&#x0364;r bringt;<lb/>
auch fungiren un&#x017F;re heutigen (großen) <choice><sic>Uuiver&#x017F;ita&#x0364;ten</sic><corr>Univer&#x017F;ita&#x0364;ten</corr></choice> fu&#x0364;r die&#x017F;en<lb/>
Zweck; aber ihr Hauptzweck i&#x017F;t es nicht. Von 100 Studen-<lb/>
ten widmen &#x017F;ich in der Regel kaum 5, oft nicht Einer der<lb/>
eigentlichen Gelehr&#x017F;amkeit. Aber alle &#x017F;ollen zu gru&#x0364;ndlich wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Bildung gelangen. Wenn die&#x017F;e nun nicht in<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;cher Er&#x017F;cho&#x0364;pfung ihrer Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, nicht in gelehrtem<lb/>
Kram oder Wu&#x017F;te, nicht in der Unendlichkeit des Wi&#x017F;&#x017F;ens,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Unfruchtbarkeit fa&#x017F;t zum Sprichworte geworden, be&#x017F;teht,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;age ich po&#x017F;itiv:</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[3/0021] ſchaft entgangen iſt, deſto mehr gebuͤhrt ihm in herkoͤmmlicher Bezeichnung der Name eines Gelehrten. Ein Solcher muß nach einem moͤglichſt erſchoͤpfenden Wiſſen ſtreben, im guten Sinne des Wortes ein Viel-, wo moͤglich (auf ſeinem Ge- biete) ein Alleswiſſer ſein. Den Zweck, ſolche Gelehrte zu bilden, haben die Univer- ſitaͤten vorzugsweiſe nicht. Schon darum nicht, weil er ſich nicht mit Sicherheit erreichen laͤßt. Zu einem Gelehr- ten wird man nicht gebildet, ſondern man bildet ſich ſelbſt dazu. Die Beſtimmung zum Gelehrten muß man ſich ſelbſt geben. Auch hat der Staat oder die Geſellſchaft kein unmit- telbares Intereſſe daran, ob ſich unter den Staatsangehoͤrigen viele große Gelehrte befinden. Als Solche gehoͤren ſie auch nicht eigentlich dem Staate an, ſondern der Menſchheit. Eigentliche Gelehrte leben nicht dem Leben, ſondern der Wiſ- ſenſchaft, und ſie bilden die europaͤiſche oder allgemein menſch- liche (cosmopolitiſche) Gelehrten-Republik. Ein Gelehrter iſt kein Englaͤnder, Franzoſe, Deutſcher, ſondern ein Gelehrter, kein Staatsdiener, ſondern ein Prieſter der Wiſſenſchaft. Wohl macht es der Intelligenz eines auf Bildung Anſpruch machen- den Staates Ehre, wenn er auch die Gelehrſamkeit, die Er- forſchung der Wiſſenſchaft foͤrdert und Opfer dafuͤr bringt; auch fungiren unſre heutigen (großen) Univerſitaͤten fuͤr dieſen Zweck; aber ihr Hauptzweck iſt es nicht. Von 100 Studen- ten widmen ſich in der Regel kaum 5, oft nicht Einer der eigentlichen Gelehrſamkeit. Aber alle ſollen zu gruͤndlich wiſ- ſenſchaftlicher Bildung gelangen. Wenn dieſe nun nicht in hiſtoriſcher Erſchoͤpfung ihrer Wiſſenſchaft, nicht in gelehrtem Kram oder Wuſte, nicht in der Unendlichkeit des Wiſſens, deſſen Unfruchtbarkeit faſt zum Sprichworte geworden, beſteht, ſo ſage ich poſitiv:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/21
Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/21>, abgerufen am 03.12.2024.