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Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

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dem Geiste stammende Wissen dagegen, das Rationale ist aus-
schließlich der Gegenstand der Beschäftigung. Dieß ist meine
Grundansicht.

Durch diese Scheidung des historischen Wissens von dem
rationalen reducirt sich der in einer Vorlesung zu behandelnde
Lehrinhalt auf ein Viertel, ein Achtel oder in noch mehr ab-
nehmenden Exponenten. Dieses ist ein unendlicher Gewinn.
Der Rest kann nun vollständig verarbeitet werden, worauf
Alles ankommt.

Ich denke mir die Ausführung so:

Dreißig bis fünfzig Studenten sitzen im Halbkreise, der
Lehrer mitten zwischen ihnen. Mit der historischen Grundlage
haben sie sich bereits bekannt gemacht. Nun beginnt der Leh-
rer die Entwicklung in freiem Gespräche, nach der Weise der
Alten, aber zugleich mit Benutzung aller seitdem in der Me-
thodik gemachten Fortschritte. Ob die Schüler einen kurzen
Leitfaden als Wegweiser, der Haltpunkte, Fingerzeige enthält,
in der Hand haben oder nicht, ist gleichgültig. Es kann sein,
kann auch nicht sein. Darauf kommt nichts an. Auch darauf
kommt nichts an, ob viel oder ob wenig Stoff verarbeitet
wird. Aber daß verarbeitet werde, das ist's. Der Student
soll das philosophische Denken lernen. Ist dieses geschehen,
so braucht er den Lehrsaal nicht mehr zu besuchen. Er hat
ausstudirt, d. h. er wird das Studiren ewig fortsetzen. Denn
der Geist ist in ihm zum Leben gekommen. Und der (lebendig
gewordene) Geist läßt sich nicht bannen.

Gleich wird man mit Einwendungen bei der Hand sein,
äußere Schwierigkeiten aufzählend.

Man wird die Menge der Studenten nennen. Freilich
wird nicht leicht ein Lehrer Hunderte zugleich im Denkproceß
zu erhalten fähig sein. Aber Hunderte gehören auch nicht

dem Geiſte ſtammende Wiſſen dagegen, das Rationale iſt aus-
ſchließlich der Gegenſtand der Beſchaͤftigung. Dieß iſt meine
Grundanſicht.

Durch dieſe Scheidung des hiſtoriſchen Wiſſens von dem
rationalen reducirt ſich der in einer Vorleſung zu behandelnde
Lehrinhalt auf ein Viertel, ein Achtel oder in noch mehr ab-
nehmenden Exponenten. Dieſes iſt ein unendlicher Gewinn.
Der Reſt kann nun vollſtaͤndig verarbeitet werden, worauf
Alles ankommt.

Ich denke mir die Ausfuͤhrung ſo:

Dreißig bis fuͤnfzig Studenten ſitzen im Halbkreiſe, der
Lehrer mitten zwiſchen ihnen. Mit der hiſtoriſchen Grundlage
haben ſie ſich bereits bekannt gemacht. Nun beginnt der Leh-
rer die Entwicklung in freiem Geſpraͤche, nach der Weiſe der
Alten, aber zugleich mit Benutzung aller ſeitdem in der Me-
thodik gemachten Fortſchritte. Ob die Schuͤler einen kurzen
Leitfaden als Wegweiſer, der Haltpunkte, Fingerzeige enthaͤlt,
in der Hand haben oder nicht, iſt gleichguͤltig. Es kann ſein,
kann auch nicht ſein. Darauf kommt nichts an. Auch darauf
kommt nichts an, ob viel oder ob wenig Stoff verarbeitet
wird. Aber daß verarbeitet werde, das iſt’s. Der Student
ſoll das philoſophiſche Denken lernen. Iſt dieſes geſchehen,
ſo braucht er den Lehrſaal nicht mehr zu beſuchen. Er hat
ausſtudirt, d. h. er wird das Studiren ewig fortſetzen. Denn
der Geiſt iſt in ihm zum Leben gekommen. Und der (lebendig
gewordene) Geiſt laͤßt ſich nicht bannen.

Gleich wird man mit Einwendungen bei der Hand ſein,
aͤußere Schwierigkeiten aufzaͤhlend.

Man wird die Menge der Studenten nennen. Freilich
wird nicht leicht ein Lehrer Hunderte zugleich im Denkproceß
zu erhalten faͤhig ſein. Aber Hunderte gehoͤren auch nicht

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[38/0056] dem Geiſte ſtammende Wiſſen dagegen, das Rationale iſt aus- ſchließlich der Gegenſtand der Beſchaͤftigung. Dieß iſt meine Grundanſicht. Durch dieſe Scheidung des hiſtoriſchen Wiſſens von dem rationalen reducirt ſich der in einer Vorleſung zu behandelnde Lehrinhalt auf ein Viertel, ein Achtel oder in noch mehr ab- nehmenden Exponenten. Dieſes iſt ein unendlicher Gewinn. Der Reſt kann nun vollſtaͤndig verarbeitet werden, worauf Alles ankommt. Ich denke mir die Ausfuͤhrung ſo: Dreißig bis fuͤnfzig Studenten ſitzen im Halbkreiſe, der Lehrer mitten zwiſchen ihnen. Mit der hiſtoriſchen Grundlage haben ſie ſich bereits bekannt gemacht. Nun beginnt der Leh- rer die Entwicklung in freiem Geſpraͤche, nach der Weiſe der Alten, aber zugleich mit Benutzung aller ſeitdem in der Me- thodik gemachten Fortſchritte. Ob die Schuͤler einen kurzen Leitfaden als Wegweiſer, der Haltpunkte, Fingerzeige enthaͤlt, in der Hand haben oder nicht, iſt gleichguͤltig. Es kann ſein, kann auch nicht ſein. Darauf kommt nichts an. Auch darauf kommt nichts an, ob viel oder ob wenig Stoff verarbeitet wird. Aber daß verarbeitet werde, das iſt’s. Der Student ſoll das philoſophiſche Denken lernen. Iſt dieſes geſchehen, ſo braucht er den Lehrſaal nicht mehr zu beſuchen. Er hat ausſtudirt, d. h. er wird das Studiren ewig fortſetzen. Denn der Geiſt iſt in ihm zum Leben gekommen. Und der (lebendig gewordene) Geiſt laͤßt ſich nicht bannen. Gleich wird man mit Einwendungen bei der Hand ſein, aͤußere Schwierigkeiten aufzaͤhlend. Man wird die Menge der Studenten nennen. Freilich wird nicht leicht ein Lehrer Hunderte zugleich im Denkproceß zu erhalten faͤhig ſein. Aber Hunderte gehoͤren auch nicht

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Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/56>, abgerufen am 16.05.2024.