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Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

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Aber in den meisten Fällen ist es anders. Ablesen, Dic-
tiren, lahmer, matter, geistloser Vortrag von der einen --
Nachschreiben, Krumm- und Lahmsitzen auf der andern Seite,
tödtliche Langeweile -- gelehrter Kram, deutsche d. h. unprak-
tische Gründlichkeit, historischer Wust -- was Wunder, daß
der Jüngling bei dem ewigen Einerlei ermüdet, stumpf und
dumm wird, dann faullenzet, anfängt zu schwänzen, sein hei-
ßes Blut an andern Orten abkühlt und seine Kraft in andern
Richtungen übt. Das Leben lockt, die lustigen, fidelen Brü-
der, die Kneipen, die Commersche. Es ist notorisch, daß für
die Meisten ein, zwei, drei oder mehr Semester verloren ge-
hen. Aber was heißt hier: verloren gehen? Ist nichts
weiter verloren als Zeit und Geld? Ist die Kraft, das
Mark des Jünglings unverbraucht geblieben? Wenn nicht in
geistiger Anstrengung und leiblich stärkenden Leibesübungen --
wie dann und wo?

Nein, Ihr Guten, diese akademische Freiheit preiset Ihr
allein. Kein Besonnener, kein Kenner, kein Freund der Ju-
gend kann sie loben. Nicht wie Schuljungen wollen wir sie
discipliniren, aber doch leiten. Die Möglichkeit der Verirrung
muß bleiben, weil an sie die Möglichkeit der Entwicklung der
Freiheit gebunden ist; aber die positiven Institutionen dürfen
nicht fehlen, die die Kraft des Jünglings in edle Richtungen
mit Sicherheit hinlenken. Saget mir doch, was für Institu-
tionen Ihr in's Leben gerufen, zur Erreichung dieses Zweckes?
Was haben wir, außer der Sprachkraft und Sprachunkraft
der akademischen Docenten? Zu was für Thätigkeiten veran-
laßt Ihr den Jüngling außer der Bewegung der Hand beim
Nachschreiben, der Passivität beim Zuhören und dem Aus-
wendiglernen seiner Hefte?! Gewiß, in vielen Fällen geschieht
ein Mehr bei den besseren Jünglingen; aber könnt Ihr in der

Aber in den meiſten Faͤllen iſt es anders. Ableſen, Dic-
tiren, lahmer, matter, geiſtloſer Vortrag von der einen —
Nachſchreiben, Krumm- und Lahmſitzen auf der andern Seite,
toͤdtliche Langeweile — gelehrter Kram, deutſche d. h. unprak-
tiſche Gruͤndlichkeit, hiſtoriſcher Wuſt — was Wunder, daß
der Juͤngling bei dem ewigen Einerlei ermuͤdet, ſtumpf und
dumm wird, dann faullenzet, anfaͤngt zu ſchwaͤnzen, ſein hei-
ßes Blut an andern Orten abkuͤhlt und ſeine Kraft in andern
Richtungen uͤbt. Das Leben lockt, die luſtigen, fidelen Bruͤ-
der, die Kneipen, die Commerſche. Es iſt notoriſch, daß fuͤr
die Meiſten ein, zwei, drei oder mehr Semeſter verloren ge-
hen. Aber was heißt hier: verloren gehen? Iſt nichts
weiter verloren als Zeit und Geld? Iſt die Kraft, das
Mark des Juͤnglings unverbraucht geblieben? Wenn nicht in
geiſtiger Anſtrengung und leiblich ſtaͤrkenden Leibesuͤbungen —
wie dann und wo?

Nein, Ihr Guten, dieſe akademiſche Freiheit preiſet Ihr
allein. Kein Beſonnener, kein Kenner, kein Freund der Ju-
gend kann ſie loben. Nicht wie Schuljungen wollen wir ſie
discipliniren, aber doch leiten. Die Moͤglichkeit der Verirrung
muß bleiben, weil an ſie die Moͤglichkeit der Entwicklung der
Freiheit gebunden iſt; aber die poſitiven Inſtitutionen duͤrfen
nicht fehlen, die die Kraft des Juͤnglings in edle Richtungen
mit Sicherheit hinlenken. Saget mir doch, was fuͤr Inſtitu-
tionen Ihr in’s Leben gerufen, zur Erreichung dieſes Zweckes?
Was haben wir, außer der Sprachkraft und Sprachunkraft
der akademiſchen Docenten? Zu was fuͤr Thaͤtigkeiten veran-
laßt Ihr den Juͤngling außer der Bewegung der Hand beim
Nachſchreiben, der Paſſivitaͤt beim Zuhoͤren und dem Aus-
wendiglernen ſeiner Hefte?! Gewiß, in vielen Faͤllen geſchieht
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[67/0085] Aber in den meiſten Faͤllen iſt es anders. Ableſen, Dic- tiren, lahmer, matter, geiſtloſer Vortrag von der einen — Nachſchreiben, Krumm- und Lahmſitzen auf der andern Seite, toͤdtliche Langeweile — gelehrter Kram, deutſche d. h. unprak- tiſche Gruͤndlichkeit, hiſtoriſcher Wuſt — was Wunder, daß der Juͤngling bei dem ewigen Einerlei ermuͤdet, ſtumpf und dumm wird, dann faullenzet, anfaͤngt zu ſchwaͤnzen, ſein hei- ßes Blut an andern Orten abkuͤhlt und ſeine Kraft in andern Richtungen uͤbt. Das Leben lockt, die luſtigen, fidelen Bruͤ- der, die Kneipen, die Commerſche. Es iſt notoriſch, daß fuͤr die Meiſten ein, zwei, drei oder mehr Semeſter verloren ge- hen. Aber was heißt hier: verloren gehen? Iſt nichts weiter verloren als Zeit und Geld? Iſt die Kraft, das Mark des Juͤnglings unverbraucht geblieben? Wenn nicht in geiſtiger Anſtrengung und leiblich ſtaͤrkenden Leibesuͤbungen — wie dann und wo? Nein, Ihr Guten, dieſe akademiſche Freiheit preiſet Ihr allein. Kein Beſonnener, kein Kenner, kein Freund der Ju- gend kann ſie loben. Nicht wie Schuljungen wollen wir ſie discipliniren, aber doch leiten. Die Moͤglichkeit der Verirrung muß bleiben, weil an ſie die Moͤglichkeit der Entwicklung der Freiheit gebunden iſt; aber die poſitiven Inſtitutionen duͤrfen nicht fehlen, die die Kraft des Juͤnglings in edle Richtungen mit Sicherheit hinlenken. Saget mir doch, was fuͤr Inſtitu- tionen Ihr in’s Leben gerufen, zur Erreichung dieſes Zweckes? Was haben wir, außer der Sprachkraft und Sprachunkraft der akademiſchen Docenten? Zu was fuͤr Thaͤtigkeiten veran- laßt Ihr den Juͤngling außer der Bewegung der Hand beim Nachſchreiben, der Paſſivitaͤt beim Zuhoͤren und dem Aus- wendiglernen ſeiner Hefte?! Gewiß, in vielen Faͤllen geſchieht ein Mehr bei den beſſeren Juͤnglingen; aber koͤnnt Ihr in der

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Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/85>, abgerufen am 24.11.2024.