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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der geschichtliche Thatbestand d. äuß. Organisation d. Gesellschaft.
liche Freiheit und That in das Naturleben des Organismus ver-
senkt, die Familie als "sociale Gewebezelle" 1) betrachtet: so wird
in einem solchen Begriff gleich im Beginn der Wissenschaft von
der Gesellschaft das freie Fürsichsein des Individuums schon im
Familienverbande eliminirt, und wer mit dem zellenhaften Leben
der Familie beginnt, kann nur mit der socialistischen Gestaltung
der Gesellschaft endigen.

Indem dann weiter Familien die Verbände der Geschlechter-
ordnung bilden, diese in Verbände anderer Struktur, wie die von
Niederlassung sind, eintreten, oder von einem weiteren Verbande
umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates,
Macht zu sein, welche die Souveränität zu seinem specifischen
Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weitesten
Verbande ihren Sitz haben; so sondern sich Familienverband und
Staatsverband von einander. Wo die Germanen in die Geschichte
eintreten, finden wir diese Trennung lange vollzogen, den deut-
schen Hausverband für sich gestaltet, von der Zeit, in welcher die
Sippe einst die Familien zu einem selbständigen Verbande ver-
knüpft haben mag, nur noch Reste, und Volksgemeinden als selb-
ständige staatliche Gemeinwesen. Die Stadien, welche hier von
keinem Beobachter wahrgenommen durchlaufen worden sind, ehe
ein Cäsar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wild-
niß geschah, sind nur theilweise zugänglich in den Berichten der
Reisenden von dem Verbandsleben der Naturvölker. Aber während
die Reste des ältesten germanischen Verbandslebens darauf deuten,
daß die patriarchalische Gewalt (mundium), die im Hausverbande
waltete, nicht constitutiv für den Geschlechtsverband wurde, be-
gegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriar-
chalischen Hausordnung erwachsenden Häuptlingsverfassung. So
ist der Vorgang der Differenzirung, welcher die äußere gesellschaft-
liche Organisation bei den verschiedenen Völkerfamilien und Völkern
hervorbringt, gleich in seinem Ansatz verschieden. Dies zieht einem
vergleichenden Verfahren, welches sich der Zustände von Natur-

1) Schäffle, Bau und Leben des organischen Körpers I, 213 ff.

Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
liche Freiheit und That in das Naturleben des Organismus ver-
ſenkt, die Familie als „ſociale Gewebezelle“ 1) betrachtet: ſo wird
in einem ſolchen Begriff gleich im Beginn der Wiſſenſchaft von
der Geſellſchaft das freie Fürſichſein des Individuums ſchon im
Familienverbande eliminirt, und wer mit dem zellenhaften Leben
der Familie beginnt, kann nur mit der ſocialiſtiſchen Geſtaltung
der Geſellſchaft endigen.

Indem dann weiter Familien die Verbände der Geſchlechter-
ordnung bilden, dieſe in Verbände anderer Struktur, wie die von
Niederlaſſung ſind, eintreten, oder von einem weiteren Verbande
umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates,
Macht zu ſein, welche die Souveränität zu ſeinem ſpecifiſchen
Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weiteſten
Verbande ihren Sitz haben; ſo ſondern ſich Familienverband und
Staatsverband von einander. Wo die Germanen in die Geſchichte
eintreten, finden wir dieſe Trennung lange vollzogen, den deut-
ſchen Hausverband für ſich geſtaltet, von der Zeit, in welcher die
Sippe einſt die Familien zu einem ſelbſtändigen Verbande ver-
knüpft haben mag, nur noch Reſte, und Volksgemeinden als ſelb-
ſtändige ſtaatliche Gemeinweſen. Die Stadien, welche hier von
keinem Beobachter wahrgenommen durchlaufen worden ſind, ehe
ein Cäſar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wild-
niß geſchah, ſind nur theilweiſe zugänglich in den Berichten der
Reiſenden von dem Verbandsleben der Naturvölker. Aber während
die Reſte des älteſten germaniſchen Verbandslebens darauf deuten,
daß die patriarchaliſche Gewalt (mundium), die im Hausverbande
waltete, nicht conſtitutiv für den Geſchlechtsverband wurde, be-
gegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriar-
chaliſchen Hausordnung erwachſenden Häuptlingsverfaſſung. So
iſt der Vorgang der Differenzirung, welcher die äußere geſellſchaft-
liche Organiſation bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern
hervorbringt, gleich in ſeinem Anſatz verſchieden. Dies zieht einem
vergleichenden Verfahren, welches ſich der Zuſtände von Natur-

1) Schäffle, Bau und Leben des organiſchen Körpers I, 213 ff.
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[93/0116] Der geſchichtliche Thatbeſtand d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft. liche Freiheit und That in das Naturleben des Organismus ver- ſenkt, die Familie als „ſociale Gewebezelle“ 1) betrachtet: ſo wird in einem ſolchen Begriff gleich im Beginn der Wiſſenſchaft von der Geſellſchaft das freie Fürſichſein des Individuums ſchon im Familienverbande eliminirt, und wer mit dem zellenhaften Leben der Familie beginnt, kann nur mit der ſocialiſtiſchen Geſtaltung der Geſellſchaft endigen. Indem dann weiter Familien die Verbände der Geſchlechter- ordnung bilden, dieſe in Verbände anderer Struktur, wie die von Niederlaſſung ſind, eintreten, oder von einem weiteren Verbande umfaßt werden, muß, gemäß der Grundfunktion des Staates, Macht zu ſein, welche die Souveränität zu ſeinem ſpecifiſchen Merkmal macht, die Staatsfunktion jedesmal in dem weiteſten Verbande ihren Sitz haben; ſo ſondern ſich Familienverband und Staatsverband von einander. Wo die Germanen in die Geſchichte eintreten, finden wir dieſe Trennung lange vollzogen, den deut- ſchen Hausverband für ſich geſtaltet, von der Zeit, in welcher die Sippe einſt die Familien zu einem ſelbſtändigen Verbande ver- knüpft haben mag, nur noch Reſte, und Volksgemeinden als ſelb- ſtändige ſtaatliche Gemeinweſen. Die Stadien, welche hier von keinem Beobachter wahrgenommen durchlaufen worden ſind, ehe ein Cäſar oder Tacitus aufzeichneten, was in der nördlichen Wild- niß geſchah, ſind nur theilweiſe zugänglich in den Berichten der Reiſenden von dem Verbandsleben der Naturvölker. Aber während die Reſte des älteſten germaniſchen Verbandslebens darauf deuten, daß die patriarchaliſche Gewalt (mundium), die im Hausverbande waltete, nicht conſtitutiv für den Geſchlechtsverband wurde, be- gegnen wir nun hier bei vielen Stämmen einer aus der patriar- chaliſchen Hausordnung erwachſenden Häuptlingsverfaſſung. So iſt der Vorgang der Differenzirung, welcher die äußere geſellſchaft- liche Organiſation bei den verſchiedenen Völkerfamilien und Völkern hervorbringt, gleich in ſeinem Anſatz verſchieden. Dies zieht einem vergleichenden Verfahren, welches ſich der Zuſtände von Natur- 1) Schäffle, Bau und Leben des organiſchen Körpers I, 213 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/116>, abgerufen am 27.11.2024.