völkern zur Aufhellung älterer Zustände der jetzigen europäischen Nationen bedient, feste Grenzen.
Es entfaltet sich aber die äußere Organisation der Gesellschaft in Familie, Geschlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herr- schaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in den mannigfachen Modifikationen dieser Formen mit einer natur- mächtigen Ursprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegsamkeit und Anpassung, welcher gemäß jeder dieser Verbände eine unbestimmte und wechselnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in sich hegt, diesen Zweckzusammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder auf- zunehmen und subsidiär jedes Gemeinbedürfniß zu befriedigen die Tendenz hat. So besteht wohl im Verbandsleben der Mensch- heit der am meisten gleichmäßig durchgreifende Unterschied zwischen diesen Verbänden und den anderen, welche durch einen bestimmten Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtsein ge- setzten und begrenzten Zweck constituirt worden sind und welche daher naturgemäß einem späteren Stadium des Verbandslebens bei einem jeden Volke angehören.
Ueberblickt man das Ganze der äußeren Organisation, das so die Menschheit sich geschaffen hat, so ist der Reichthum der Formen unermeßlich. In allen diesen Formen ist es die Beziehung zwischen Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgesetz und daher die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet. Und in irgend einem geschichtlichen Durchschnitt findet das Studium des Verbandslebens der Menschheit beinahe jeden Grad von Umfang des Zweckzusammenhangs irgend einem Verbande zu Grunde liegend, von der Lebensgemeinschaft der Familie bis zu der gegen- seitigen Versicherungsgesellschaft gegen Hagelschaden: sie findet bei- nahe jede Form von Struktur, von den Despotenstaaten im Herzen von Afrika bis zu der modernen Aktiengesellschaft, in welcher jeder Theilnehmer seine Einzelpersönlichkeit voll behauptet und nur vertragsmäßig einen genau begrenzten Theil seines Vermögens dem gemeinsamen Zwecke widmet.
Erſtes einleitendes Buch.
völkern zur Aufhellung älterer Zuſtände der jetzigen europäiſchen Nationen bedient, feſte Grenzen.
Es entfaltet ſich aber die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Familie, Geſchlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herr- ſchaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in den mannigfachen Modifikationen dieſer Formen mit einer natur- mächtigen Urſprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegſamkeit und Anpaſſung, welcher gemäß jeder dieſer Verbände eine unbeſtimmte und wechſelnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in ſich hegt, dieſen Zweckzuſammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder auf- zunehmen und ſubſidiär jedes Gemeinbedürfniß zu befriedigen die Tendenz hat. So beſteht wohl im Verbandsleben der Menſch- heit der am meiſten gleichmäßig durchgreifende Unterſchied zwiſchen dieſen Verbänden und den anderen, welche durch einen beſtimmten Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtſein ge- ſetzten und begrenzten Zweck conſtituirt worden ſind und welche daher naturgemäß einem ſpäteren Stadium des Verbandslebens bei einem jeden Volke angehören.
Ueberblickt man das Ganze der äußeren Organiſation, das ſo die Menſchheit ſich geſchaffen hat, ſo iſt der Reichthum der Formen unermeßlich. In allen dieſen Formen iſt es die Beziehung zwiſchen Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgeſetz und daher die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet. Und in irgend einem geſchichtlichen Durchſchnitt findet das Studium des Verbandslebens der Menſchheit beinahe jeden Grad von Umfang des Zweckzuſammenhangs irgend einem Verbande zu Grunde liegend, von der Lebensgemeinſchaft der Familie bis zu der gegen- ſeitigen Verſicherungsgeſellſchaft gegen Hagelſchaden: ſie findet bei- nahe jede Form von Struktur, von den Despotenſtaaten im Herzen von Afrika bis zu der modernen Aktiengeſellſchaft, in welcher jeder Theilnehmer ſeine Einzelperſönlichkeit voll behauptet und nur vertragsmäßig einen genau begrenzten Theil ſeines Vermögens dem gemeinſamen Zwecke widmet.
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Erſtes einleitendes Buch.
völkern zur Aufhellung älterer Zuſtände der jetzigen europäiſchen
Nationen bedient, feſte Grenzen.
Es entfaltet ſich aber die äußere Organiſation der Geſellſchaft
in Familie, Geſchlechterordnung, örtlichem Verband, in jedem herr-
ſchaftlichen Verbande, in Kirche und anderem Religionsverband, in
den mannigfachen Modifikationen dieſer Formen mit einer natur-
mächtigen Urſprünglichkeit und Unermeßlichkeit, Biegſamkeit und
Anpaſſung, welcher gemäß jeder dieſer Verbände eine unbeſtimmte
und wechſelnde Mannigfaltigkeit von Zwecken in ſich hegt, dieſen
Zweckzuſammenhang fallen läßt und jenen aufnimmt, ja nur für
heute einen Zweck fallen läßt, um ihn dann morgen wieder auf-
zunehmen und ſubſidiär jedes Gemeinbedürfniß zu befriedigen die
Tendenz hat. So beſteht wohl im Verbandsleben der Menſch-
heit der am meiſten gleichmäßig durchgreifende Unterſchied zwiſchen
dieſen Verbänden und den anderen, welche durch einen beſtimmten
Akt bewußter Willensvereinigung, für einen mit Bewußtſein ge-
ſetzten und begrenzten Zweck conſtituirt worden ſind und welche
daher naturgemäß einem ſpäteren Stadium des Verbandslebens
bei einem jeden Volke angehören.
Ueberblickt man das Ganze der äußeren Organiſation, das ſo
die Menſchheit ſich geſchaffen hat, ſo iſt der Reichthum der Formen
unermeßlich. In allen dieſen Formen iſt es die Beziehung zwiſchen
Zweck, Funktion und Struktur, welche ihr Bildungsgeſetz und daher
die Ausgangspunkte für die Methode der Vergleichung darbietet.
Und in irgend einem geſchichtlichen Durchſchnitt findet das Studium
des Verbandslebens der Menſchheit beinahe jeden Grad von Umfang
des Zweckzuſammenhangs irgend einem Verbande zu Grunde
liegend, von der Lebensgemeinſchaft der Familie bis zu der gegen-
ſeitigen Verſicherungsgeſellſchaft gegen Hagelſchaden: ſie findet bei-
nahe jede Form von Struktur, von den Despotenſtaaten im Herzen
von Afrika bis zu der modernen Aktiengeſellſchaft, in welcher jeder
Theilnehmer ſeine Einzelperſönlichkeit voll behauptet und nur
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/117>, abgerufen am 27.11.2024.
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