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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte dasselbe noch als die
Grundlage jeder einzelnen positiven Gesetzgebung auf. Als die
ersten Theoretiker, welche die Gesetzgebung der Natur zu den po-
sitiven Gesetzen des einzelnen Staats in Gegensatz stellten, und so
das Naturrecht verselbständigten, treten in den Trümmern des
älteren griechischen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor;
es war die geschichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar
im Zusammenhang mit seinen archäologischen Studien, die un-
geschriebenen Gesetze, welche sich gleichmäßig bei den verschiedensten,
durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher
nicht durch Reception von Einem zum Anderen gebracht sein können,
als Naturrecht von dem positiven Rechte schied und dem letzteren
die Verbindlichkeit absprach1). Ein bedeutsames Denkmal dieses
Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles,
welche diesen Gegensatz der ungeschriebenen Normen des Rechtes
und der positiven Gesetzgebung zweifellos aus den Debatten jener
Zeit aufnahmen, ihm aber einen classischen Ausdruck gaben.
Bildete so das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzusammen-
hanges im Rechte aus, welchem gemäß dasselbe ein System ist
-- mochte es nun diesen als einen göttlichen oder einen natür-
lichen Zusammenhang fassen --, so unterschied es von ihm natur-
gemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So
stellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen
System das aus der Gewalt des Verbands entsprungene positive
Recht gegenüber2).


Entwickelung des Begriffs besonders bemerkenswerth. Eine Stelle des
Demosthenes, in welcher der nomos in erster Linie als ein eurema kai
doron theon, in zweiter als poleos suntheke koine aufgefaßt und in
seiner Verbindlichkeit erklärt wird, ist durch Marcian in die Pandekten ge-
langt (l. 2 Dig. de leg. 1, 3).
1) Den Einfluß seiner archäologischen Studien auf eine solche ver-
gleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation
über das Gespräch zwischen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4)
ist zweifellos echt, aber entstellt und verworren, da die Ansicht des
Hippias sicher bei dem Beginn des Gesprächs in ihm ausgebildet war, wie
ja auch der Eingang uns beweist, sonach die Gesprächführung dem entspre-
chend anders vorgestellt werden muß.
2) Um Mißverständnisse zu verhüten, merke ich an: Von dieser natur-

Erſtes einleitendes Buch.
natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte daſſelbe noch als die
Grundlage jeder einzelnen poſitiven Geſetzgebung auf. Als die
erſten Theoretiker, welche die Geſetzgebung der Natur zu den po-
ſitiven Geſetzen des einzelnen Staats in Gegenſatz ſtellten, und ſo
das Naturrecht verſelbſtändigten, treten in den Trümmern des
älteren griechiſchen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor;
es war die geſchichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar
im Zuſammenhang mit ſeinen archäologiſchen Studien, die un-
geſchriebenen Geſetze, welche ſich gleichmäßig bei den verſchiedenſten,
durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher
nicht durch Reception von Einem zum Anderen gebracht ſein können,
als Naturrecht von dem poſitiven Rechte ſchied und dem letzteren
die Verbindlichkeit abſprach1). Ein bedeutſames Denkmal dieſes
Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles,
welche dieſen Gegenſatz der ungeſchriebenen Normen des Rechtes
und der poſitiven Geſetzgebung zweifellos aus den Debatten jener
Zeit aufnahmen, ihm aber einen claſſiſchen Ausdruck gaben.
Bildete ſo das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzuſammen-
hanges im Rechte aus, welchem gemäß daſſelbe ein Syſtem iſt
— mochte es nun dieſen als einen göttlichen oder einen natür-
lichen Zuſammenhang faſſen —, ſo unterſchied es von ihm natur-
gemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So
ſtellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen
Syſtem das aus der Gewalt des Verbands entſprungene poſitive
Recht gegenüber2).


Entwickelung des Begriffs beſonders bemerkenswerth. Eine Stelle des
Demoſthenes, in welcher der νόμος in erſter Linie als ein εὕϱημα καὶ
δῶϱον ϑεῶν, in zweiter als πόλεως συνϑήκη κοινή aufgefaßt und in
ſeiner Verbindlichkeit erklärt wird, iſt durch Marcian in die Pandekten ge-
langt (l. 2 Dig. de leg. 1, 3).
1) Den Einfluß ſeiner archäologiſchen Studien auf eine ſolche ver-
gleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation
über das Geſpräch zwiſchen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4)
iſt zweifellos echt, aber entſtellt und verworren, da die Anſicht des
Hippias ſicher bei dem Beginn des Geſprächs in ihm ausgebildet war, wie
ja auch der Eingang uns beweiſt, ſonach die Geſprächführung dem entſpre-
chend anders vorgeſtellt werden muß.
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[98/0121] Erſtes einleitendes Buch. natürlichen Rechtes in Europa. Sie faßte daſſelbe noch als die Grundlage jeder einzelnen poſitiven Geſetzgebung auf. Als die erſten Theoretiker, welche die Geſetzgebung der Natur zu den po- ſitiven Geſetzen des einzelnen Staats in Gegenſatz ſtellten, und ſo das Naturrecht verſelbſtändigten, treten in den Trümmern des älteren griechiſchen Naturrechts Archelaos und Hippias hervor; es war die geſchichtliche Bedeutung des letzteren, daß er, offenbar im Zuſammenhang mit ſeinen archäologiſchen Studien, die un- geſchriebenen Geſetze, welche ſich gleichmäßig bei den verſchiedenſten, durch ihre Sprachen getrennten Völkern finden und die daher nicht durch Reception von Einem zum Anderen gebracht ſein können, als Naturrecht von dem poſitiven Rechte ſchied und dem letzteren die Verbindlichkeit abſprach 1). Ein bedeutſames Denkmal dieſes Stadiums des Naturrechts bilden die Tragödien des Sophokles, welche dieſen Gegenſatz der ungeſchriebenen Normen des Rechtes und der poſitiven Geſetzgebung zweifellos aus den Debatten jener Zeit aufnahmen, ihm aber einen claſſiſchen Ausdruck gaben. Bildete ſo das Naturrecht den Gedanken eines Zweckzuſammen- hanges im Rechte aus, welchem gemäß daſſelbe ein Syſtem iſt — mochte es nun dieſen als einen göttlichen oder einen natür- lichen Zuſammenhang faſſen —, ſo unterſchied es von ihm natur- gemäß das, was der Wille des Verbandes hinzugefügt hat. So ſtellen die mittelalterlichen Naturrechtslehrer dem natürlichen Syſtem das aus der Gewalt des Verbands entſprungene poſitive Recht gegenüber 2). 3) 1) Den Einfluß ſeiner archäologiſchen Studien auf eine ſolche ver- gleichende Sammlung finde ich Clemens Strom. VI, 624. Die Relation über das Geſpräch zwiſchen Hippias und Sokrates (Xenoph. Memorabil. 4, 4) iſt zweifellos echt, aber entſtellt und verworren, da die Anſicht des Hippias ſicher bei dem Beginn des Geſprächs in ihm ausgebildet war, wie ja auch der Eingang uns beweiſt, ſonach die Geſprächführung dem entſpre- chend anders vorgeſtellt werden muß. 2) Um Mißverſtändniſſe zu verhüten, merke ich an: Von dieſer natur- 3) Entwickelung des Begriffs beſonders bemerkenswerth. Eine Stelle des Demoſthenes, in welcher der νόμος in erſter Linie als ein εὕϱημα καὶ δῶϱον ϑεῶν, in zweiter als πόλεως συνϑήκη κοινή aufgefaßt und in ſeiner Verbindlichkeit erklärt wird, iſt durch Marcian in die Pandekten ge- langt (l. 2 Dig. de leg. 1, 3).

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/121>, abgerufen am 23.11.2024.