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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Verhältniß zwischen Rechts- und Staatswissenschaften.
der Aufstellung und zwangsweisen Aufrechterhaltung von Regeln
des Rechts.

Sonach ist das Recht eine Funktion der äußeren Or-
ganisation
der Gesellschaft. Es hat in den Gesammtwillen
innerhalb dieser Organisation seinen Sitz. Es mißt die Macht-
sphären der Individuen im Zusammenhang mit der Aufgabe ab,
welche sie innerhalb dieser äußeren Organisation gemäß ihrer
Stellung in ihr haben. Es ist die Bedingung alles folgerichtigen
Thuns der Einzelnen in den Systemen der Kultur 1).

Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es
den Systemen der Kultur verwandt ist2). Es ist ein Zweckzu-
sammenhang. Einen solchen bringt jeder Wille hervor, sonach auch
der Staatswille, in jeder seiner Aeußerungen, mag er Wege bauen,
Heere organisiren oder Recht schaffen. Auch ist dieser Staatswille
auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder seiner
Aeußerungen so gut als im Recht angewiesen. Aber der Zweck-
zusammenhang des Rechts hat besondere Eigenschaften, die aus dem
Verhältniß des Rechtsbewußtseins zur Rechtsordnung fließen.

Der Staat schafft nicht durch seinen nackten Willen diesen
Zusammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsord-
nungen gleichförmig wiederkehrt, noch den concreten Zusammen-
hang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in
dieser Rücksicht nicht gemacht, sondern gefunden. So paradox
es lautet: Dies ist der tiefe Gedanke des Naturrechts.
Der älteste Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des ein-
zelnen Staats von Göttern stammte, setzte sich in dem Fortgang
des griechischen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Welt-
gesetz der hervorbringende Grund aller Staats- und Rechtsord-
nung sei 3). Dies war die älteste Form der Annahme eines

1) S. 67 ff. --
2) S. 68. 71.
3) Dieses Stadium des griechischen Denkens über Recht und Staat
ist noch erhalten in dem Fragment des Heraklit: trephontai gar pantes
oi anthropinoi nomoi upo enos tou theiou krateei gar tosouton
okoson ethelei kai exarkeei pasi kai periginetai (Stob. flor. III, 84), so-
wie in den verwandten Stellen des Aeschylos und Pindar. Die Stelle des
letzteren: kata phusin nomos o panton basileus etc. (fr. XI, 48) ist für die
Dilthey, Einleitung. 7

Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
der Aufſtellung und zwangsweiſen Aufrechterhaltung von Regeln
des Rechts.

Sonach iſt das Recht eine Funktion der äußeren Or-
ganiſation
der Geſellſchaft. Es hat in den Geſammtwillen
innerhalb dieſer Organiſation ſeinen Sitz. Es mißt die Macht-
ſphären der Individuen im Zuſammenhang mit der Aufgabe ab,
welche ſie innerhalb dieſer äußeren Organiſation gemäß ihrer
Stellung in ihr haben. Es iſt die Bedingung alles folgerichtigen
Thuns der Einzelnen in den Syſtemen der Kultur 1).

Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es
den Syſtemen der Kultur verwandt iſt2). Es iſt ein Zweckzu-
ſammenhang. Einen ſolchen bringt jeder Wille hervor, ſonach auch
der Staatswille, in jeder ſeiner Aeußerungen, mag er Wege bauen,
Heere organiſiren oder Recht ſchaffen. Auch iſt dieſer Staatswille
auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder ſeiner
Aeußerungen ſo gut als im Recht angewieſen. Aber der Zweck-
zuſammenhang des Rechts hat beſondere Eigenſchaften, die aus dem
Verhältniß des Rechtsbewußtſeins zur Rechtsordnung fließen.

Der Staat ſchafft nicht durch ſeinen nackten Willen dieſen
Zuſammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsord-
nungen gleichförmig wiederkehrt, noch den concreten Zuſammen-
hang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in
dieſer Rückſicht nicht gemacht, ſondern gefunden. So paradox
es lautet: Dies iſt der tiefe Gedanke des Naturrechts.
Der älteſte Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des ein-
zelnen Staats von Göttern ſtammte, ſetzte ſich in dem Fortgang
des griechiſchen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Welt-
geſetz der hervorbringende Grund aller Staats- und Rechtsord-
nung ſei 3). Dies war die älteſte Form der Annahme eines

1) S. 67 ff. —
2) S. 68. 71.
3) Dieſes Stadium des griechiſchen Denkens über Recht und Staat
iſt noch erhalten in dem Fragment des Heraklit: τϱέφονται γὰϱ πάντες
οἱ ἀνϑϱώπινοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ ϑείου κϱατέει γὰϱ τοσοῦτον
ὁκόσον ἐϑέλει καὶ ἐξαϱκέει πᾶσι καὶ πεϱιγίνεται (Stob. flor. III, 84), ſo-
wie in den verwandten Stellen des Aeſchylos und Pindar. Die Stelle des
letzteren: κατὰ φύσιν νόμος ὁ πάντων βασιλεύς etc. (fr. XI, 48) iſt für die
Dilthey, Einleitung. 7
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[97/0120] Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften. der Aufſtellung und zwangsweiſen Aufrechterhaltung von Regeln des Rechts. Sonach iſt das Recht eine Funktion der äußeren Or- ganiſation der Geſellſchaft. Es hat in den Geſammtwillen innerhalb dieſer Organiſation ſeinen Sitz. Es mißt die Macht- ſphären der Individuen im Zuſammenhang mit der Aufgabe ab, welche ſie innerhalb dieſer äußeren Organiſation gemäß ihrer Stellung in ihr haben. Es iſt die Bedingung alles folgerichtigen Thuns der Einzelnen in den Syſtemen der Kultur 1). Dennoch hat das Recht eine andere Seite, durch welche es den Syſtemen der Kultur verwandt iſt 2). Es iſt ein Zweckzu- ſammenhang. Einen ſolchen bringt jeder Wille hervor, ſonach auch der Staatswille, in jeder ſeiner Aeußerungen, mag er Wege bauen, Heere organiſiren oder Recht ſchaffen. Auch iſt dieſer Staatswille auf die Mitwirkung der ihm Unterworfenen in jeder ſeiner Aeußerungen ſo gut als im Recht angewieſen. Aber der Zweck- zuſammenhang des Rechts hat beſondere Eigenſchaften, die aus dem Verhältniß des Rechtsbewußtſeins zur Rechtsordnung fließen. Der Staat ſchafft nicht durch ſeinen nackten Willen dieſen Zuſammenhang, weder in abstracto, wie er in allen Rechtsord- nungen gleichförmig wiederkehrt, noch den concreten Zuſammen- hang in einer einzelnen Rechtsordnung. Das Recht wird in dieſer Rückſicht nicht gemacht, ſondern gefunden. So paradox es lautet: Dies iſt der tiefe Gedanke des Naturrechts. Der älteſte Glaube, welchem gemäß die Rechtsordnung des ein- zelnen Staats von Göttern ſtammte, ſetzte ſich in dem Fortgang des griechiſchen Denkens in den Satz um, daß ein göttliches Welt- geſetz der hervorbringende Grund aller Staats- und Rechtsord- nung ſei 3). Dies war die älteſte Form der Annahme eines 1) S. 67 ff. — 2) S. 68. 71. 3) Dieſes Stadium des griechiſchen Denkens über Recht und Staat iſt noch erhalten in dem Fragment des Heraklit: τϱέφονται γὰϱ πάντες οἱ ἀνϑϱώπινοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ ϑείου κϱατέει γὰϱ τοσοῦτον ὁκόσον ἐϑέλει καὶ ἐξαϱκέει πᾶσι καὶ πεϱιγίνεται (Stob. flor. III, 84), ſo- wie in den verwandten Stellen des Aeſchylos und Pindar. Die Stelle des letzteren: κατὰ φύσιν νόμος ὁ πάντων βασιλεύς etc. (fr. XI, 48) iſt für die Dilthey, Einleitung. 7

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/120>, abgerufen am 23.11.2024.